Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
zurück an ihre Arbeit mussten. Aus irgendeinem Grund musste der Kessel immer absolut dicht sein. Niemand durfte mehr rein oder raus, bis die Polizei beschloss, die Menge grüppchenweise abfließen zu lassen. Jeder, der auf eigene Faust zu entkommen versuchte, wurde als Krimineller auf der Flucht behandelt. Deswegen war »Polizeikessel« mittlerweile auch gleichbedeutend mit blutig geschlagenen Demonstranten, die zuckend, aus Kopfwunden blutend und mit von Pfefferspray geröteten Augen auf Tragen abtransportiert wurden.
»Liam«, sagte ich. »Wir müssen hier sofort weg.« Auf seinem Handy konnte ich die Linie der Einsatzkräfte mit ihren Helmen, Schilden und anderem Militärscheiß sehen. Es war wie der feuchte Traum eines jeden Zyz-Söldners oder Hobby-Ninjas. »Bevor sie uns komplett eingeschlossen haben.«
Zu meinem Erstaunen lächelte Liam nur und fing an zu singen: »Polly, setz den Kessel auf/ Sukey, nimm ihn wieder runter!« Seine Finger flogen über den Schirm seines Smartphones. »Kennst du das etwa nicht?«, fragte er, als er meine Verwirrung bemerkte.
»Was?«
»Sukey? Na, den alten Vers: ›Polly, setz den Kessel auf/ Sukey, nimm ihn wieder runter.‹ Wirklich nicht? Ist ein Kinderreim. Hätte gedacht, dass jeder den kennt.«
»Nein, Liam, den kenne ich nicht. Wieso ist das jetzt wichtig?« Ich musste mich arg beherrschen, ihm nicht den Kopf abzubeißen. Niemand sollte so begeistert sein, wenn er gerade in einen Kessel gerät.
»Sukey ist eine Open-Source-Überwachungs-App. Sie sammelt Infos von allen Leuten im Kessel, von Drohnen, Webcams, SMS , allem Möglichen, und legt sie auf eine Übersichtskarte, sodass man sieht, welche Routen noch offen sind. Bei einer so großen Versammlungsfläche kann die Polizei unmöglich alle Seitenstraßen auf einmal dichtmachen.«
Als er mir sein Handy reichte, musterte ich die Anzeige. Wütende, dicke rote Pfeile zeigten die Richtung der Polizeikräfte und ihrer nachrückenden Verstärkung an. Dünne grüne Linien zeigten die Fluchtwege.
»Gepunktete Linien sind noch nicht bestätigt. Durchgezogene Linien sind es, werden aber automatisch zu gepunkteten, wenn sie nicht regelmäßig neu bestätigt werden. Die da sieht gut aus.« Er zeigte auf einen Fußgängerweg zwischen zwei Verwaltungsgebäuden ein paar hundert Meter die Straße hinab.
»Die ist aber nicht bestätigt. Was wäre denn mit der hier? Die ist bestätigt und auch näher.«
Er schüttelte den Kopf. »Schon, aber irgendwer muss den anderen Fluchtweg ja schließlich bestätigen. Und wenn er wirklich schon versperrt ist, gibt es noch eine alternative bestätigte Route direkt dahinter. Damit helfen wir auch den anderen.«
»Ich will einfach nur abhauen , Liam.«
Er schaute mich derart enttäuscht an, dass es mich geradezu lähmte. Sein Blick war wirklich noch schlimmer als das Gequetsche ringsum. Die Anons waren inzwischen auf die Laterne geklettert, die Gesichter hinter dem breiten Grinsen ihrer Masken verborgen, und Trudy Doo war irgendwo in der Menge verschwunden. Dennoch war mir, als ob sie mich allesamt anschauten: sie, die Anons, Liam, die ganze Menge – alle bekamen sie mit, wie »M1k3y« die Nerven verlor. Wahrscheinlich twitterten sie es schon.
»Vergiss es einfach«, sagte ich. »Checken wir die Sukey-Route.«
Liam grinste überrascht, und so machten wir uns auf den Weg. Es war, wie durch Molasse zu waten, und allmählich hörte man über den fröhlichen Lärm der Menge hinweg in der Ferne auch Gebrüll, das nach ersten Schmerzensschreien klang. Ich begann zu zittern, während ich mich zentimeterweise durch die dichtgedrängten Körper schob. Doch Sukey behielt recht: Der schmale Fußgängerweg war unbewacht, und zahlreiche Menschen schlüpften durch ihn noch hinein und hinaus. Wir folgten im Gänsemarsch, und sobald wir das andere Ende erreicht hatten, tippte Liam auf seinen Schirm, um die Route zu bestätigen. »Erledigt«, sagte er, als wir auf die Market Street hinaustraten. Ich bat ihn, sein Tuch abzunehmen, denn wir kamen an vielen Bullen vorbei, manche auf Posten, andere auf dem Weg zur Demo. Es waren auch immer noch Demonstranten unterwegs, und manche hielt die Polizei an, um sie und ihre Taschen zu durchsuchen. Wir kamen an zwei Mädchen unseres Alters mit gefesselten Händen vorbei, die gerade in einen Streifenwagen verfrachtet wurden. Die eine wirkte wütend, die andere, als ob sie gleich losweinen würde. Wir gingen rasch weiter.
Dann betraten wir die nächste BART -Station
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