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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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Anon-Typ ja einer von denen, die mich überwacht hatten. Vielleicht waren er und seine Kumpels genau die Geister, die sich die Diskussion auf meinem Bildschirm geliefert hatten. Irgendwie hatte ich mir immer vorgestellt, dass sie tausend Meilen entfernt wohnten, in irgendeinem Kaff, wo kaum was los war und sie zu viel Zeit hatten. Aber vielleicht waren sie ja praktisch meine Nachbarn. Vielleicht war es mir nicht mal gelungen, sie auszusperren, und sie überwachten mich noch immer und waren nur deshalb hier, weil sie mein Gespräch mit Liam belauscht hatten.
    So konnte es nicht weitergehen. Ich musste einen kühlen Kopf bewahren. Eine einzige Nacht mal vernünftig durchschlafen – dann würde ich vielleicht alles wieder in den Griff kriegen. Irgendwie, fiel mir da auf, ging es mir schon seit Jahren so. Könnte ich doch nur mal einen ganz normalen Tag erleben. Einen Tag, an dem sich meine Eltern zur Abwechslung mal keine Sorgen wegen Job und Kohle machen mussten. Einen Tag, an dem ich bloß ein normaler Student oder ein normaler Programmierer war, irgendwas Normales jedenfalls …
    Würde jemals wieder irgendwas »normal« sein?
    Seit wir hier waren, war die Menge beständig gewachsen. Ich hatte schon ein paar große Demos in San Francisco erlebt, aber die waren meist sehr gut organisiert und genehmigt gewesen. Das hier war anders. Schon den Sommer über hatte ich den Eindruck gehabt, dass die Occupy-Bewegung immer mehr Zulauf erhielt. Ich hatte mir aber nicht richtig klargemacht, was das hieß, bis ich jetzt begriff, dass der fast schmerzhafte Lärm in meinen Ohren die Gespräche von Tausenden und Abertausenden von Menschen auf engstem Raum waren.
    »Mannomann«, sagte ich, und Liam zeigte mir grinsend sein Handy mit dem Livefeed einer der zahlreichen Drohnen, die über uns herumschwirrten. Manche trugen das Logo der Polizei, andere das von Fernsehsendern, wieder andere waren mit Regenbögen, Slogans oder grinsenden Totenköpfen bemalt. Doch die meisten waren seltsamerweise überhaupt nicht gekennzeichnet und hätten jedem gehören können. Die Drohne, deren Feed Liam mit seinem Handyempfing, flog eine gemächliche 8 über der Menge, welche sich mittlerweile von der Grove Street bis zur Golden GateAvenue erstreckte; und immer noch strömten Menschen mit selbst gemalten Schildern aus den Seitenstraßen heran.
    Liam freute sich wie verrückt und zeigte die Bilder auch Trudy Doo, den Anons, jedem, der stillhielt. Ich dagegen kämpfte wieder gegen die Panik an, dachte an jene andere Menschenmenge, genauso groß und ungeordnet, damals an der BART -Station Powell Street, als die Luftschutzsirenen losgingen. Diese Menge war so dicht gewesen, dass sie mir fast wie ein lebendes Wesen vorgekommen war: eine Boa Constrictor, die einen erwürgte, ein massiges Brauereipferd, das einen zu Tode trampelte. Irgendwer in der Menge hatte Darryl einfach niedergestochen, ein sinnloser Akt der Gewalt, über den ich noch immer häufig nachdachte, wenn ich nachts nicht schlafen konnte. War der Attentäter einfach bloß ausgerastet? Oder hatte er schon länger auf die Gelegenheit gewartet, einmal straffrei jemanden abstechen zu können?
    Die Menge bedrängte mich von allen Seiten. Sie bewegte sich bloß noch stückchenweise, Millimeter um Millimeter, aber unablässig, unaufhaltsam, und von Sekunde zu Sekunde wurde es enger. Ich wollte zurückweichen und trat jemandem auf die Zehen. »Sorry!«, japste ich.
    Dann packte ich Liam am Arm. »Du, Liam … «
    »Was ist?«
    »Nur so eine Ahnung … Können wir bitte gehen? Jetzt gleich? Ich möchte zurück ins Büro, und das wird nichts, wenn wir im Gefängnis landen.« Oder zerquetscht werden.
    »Alles cool«, meinte er. »Mach dir keinen Kopf.«
    »Liam, ich gehe, und zwar jetzt. Wir sehen uns später bei Joe.«
    »Moment«, sagte er und fasste mich am Arm. »Ich komm ja mit.« Dann: »Moment mal. Au Scheiße.«
    »Was ist?«
    »Polizeikessel.«
    Ich schluckte schwer und versuchte angestrengt, meine aufwallende Magensäure am Hochsteigen zu hindern. Polizeikessel hieß, dass die Polizisten die Demonstranten mit Einsatzschilden, Schutzmasken, Schlagstöcken und Helmen umzingelten und den Kreis dann enger zogen, sodass sie den Platz für die Leute reduzierten, sie wie Erbsen in einem Beutel zusammenquetschten, bis sie sich nicht mal mehr setzen oder hinlegen konnten; ohne Essen, ohne Wasser, ohne Toiletten. Zehntausende von Menschen – darunter Kinder, Kranke, Schwangere, Alte, Menschen, die

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