Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Mächte des Bösen erteilt. An sich hatte ich ihnen bloß Tech-Support gegeben. Von den unzähligen Kameras, die auf mich gerichtet gewesen waren, hatten ein paar bestimmt auch live ins Netz gestreamt, und die übrigen würden ihre Mitschnitte später bei YouTube hochladen. Da waren aber auch drei geleckt wirkende Typen mit Camcordern, die unablässig ihre Kreise in der Menge zogen. Sie trugen blaue Windjacken der Polizei von San Francisco und gaben sich Mühe, von jedem Gesicht eine klare Aufnahme zu kriegen, besonders von denen, die von erhöhten Positionen zur Menge sprachen, so wie ich gerade. Ich schluckte. Na ja, wir hatten ja ohnehin schon das Vergnügen gehabt, oder nicht? Zumindest hatten sie mich mal eingegast und verhaftet. Und damit galten wir wohl als einander förmlich vorgestellt.
Der Anon-Typ mit den Flyern kam zu mir und reichte mir einen, dann schüttelte er mir die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits.« Seinen Augen und der Haltung nach war er etwa in meinem Alter. Ich warf einen Blick auf den hastig zusammengebastelten Flyer, der ungefähr die Größe eines geviertelten Blatts Schreibpapier hatte. Alle wichtigen Infos standen drauf: eine Adresse, von der man ein bootfähiges ParanoidLinux bekam, die Adresse der Darknet-Docs, ein paar URL s mit Tutorials. Dazu war der Flyer mit diversen Guy-Fawkes-Masken und witzigen Slogans verschönert und hatte sogar einen Hashwert, mit dem man die Unversehrtheit seines Linux-Downloads überprüfen konnte. Eine Sekunde lang schien mir die Downloadadresse irgendwie falsch, und vor lauter Paranoia stellte ich mir vor, was passieren würde, wenn all diese Leute Teil einer Verschwörung wären, die einen mit falschen Hashwerten reinlegen und mit Spyware verseuchen wollten. Dann begriff ich, dass ich mich bloß verlesen hatte und brachte mich wieder unter Kontrolle. »Das ist echt gut«, sagte ich. »Vielen Dank.«
Der Anon legte den Kopf schief. »Kein Problem – war das Mindeste, was ich tun konnte. Schien einfach nötig zu sein. Ich hab mir die Docs gleich angeschaut, als ich davon hörte, dann hab ich heute Morgen den Mist mit Hearts and Minds gelesen und mir gedacht, die Leute müssen Bescheid wissen. Also hab ich den Flyer gemacht und so oft es ging kopiert. Das scheint heutzutage überhaupt eine gute Idee zu sein: immer erst mal viele Kopien anlegen.«
Er sagte es so fröhlich, dass ich lachen musste. »Bakterien schwören drauf.«
»Stimmt«, meinte er. »Vielleicht könnten wir ja ein paar Biotechfreaks an Land ziehen, die uns alles in Bakterien codieren? Dann die Petrischale einfach über Nacht stehen lassen, und schon hat man eine Billion Kopien von seinen Daten.«
»Virales Marketing«, schlug ich vor.
» Bakterielles Marketing«, verbesserte mich Liam.
Der Anon-Typ lachte hinter seiner Maske. Ich fragte mich, ob das nicht juckte. »Das ist mein Freund Liam«, stellte ich vor. »Er hat mich heute hergebracht.« Sie schüttelten einander die Hände, und der Anon-Typ bewunderte Liams Kopftuch. Als Liam es vors Gesicht zog, ahnte ich, dass er darunter grinste.
»Wow«, sagte der Anon-Typ.
»Geil, oder?«, sagte Liam.
Trudy Doo legte mir von hinten einen Arm um die Schulter. »Siehst gut aus, Marcus.«
»Eigentlich hab ich seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen und mir letzte Woche die Nase gebrochen. Momentan stehe ich kurz vorm Nervenkasper, aber danke trotzdem.«
»Sag ich doch. Scheinst viel zu tun zu haben, also geht es dir gut. Besser als den Zombies vor ihren Glotzen, die nur auf ihre Beerdigung warten.« Sie drückte mich.
»Wie geht’s dir denn so?« Die Frage schien ein wenig unhöflich, wenn jemand gerade seine Firma verloren hatte, aber mir fiel sonst nichts ein, und irgendwie sonnte ich mich auch in den neidischen Blicken Liams und wollte nicht, dass Trudy Doo abhaute, bevor ich allen bewiesen hatte, wie cool ich war.
Sie zuckte die Achseln. »Bin ziemlich angepisst. Aber das ist auch ganz gut so. Lieber angepisst als resigniert und lammfromm. Der ganze Scheiß, der passiert ist, das Geld, das die Superreichen und die Heuschrecken an der Krise verdient haben, die großen Telefongesellschaften und ihre Abzocke … Pigspleen haben sie ruiniert, aber mich hat das alles nur stärker gemacht. Jetzt will ich kämpfen.«
Mehrere Anons scharten sich bei ihren Worten um sie. Offensichtlich gefiel ihnen der Rant. Ich wünschte, ich könnte so reden.
Wieder befiel mich kurz die Paranoia: Vielleicht war dieser
Weitere Kostenlose Bücher