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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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Kopf fiel, wäre das richtig, richtig scheiße. Auf einmal ging damit von diesen Bildern noch ein ganz anderer Nervenkitzel aus – als ob es nicht schon fesselnd genug gewesen wäre, Tausende und Abertausende Gesichter bei dieser Geschwindigkeit vorbeirauschen zu sehen.
    »Lass uns mal noch näher ran gehen«, sagte Lemmy.
    »Okay.«
    Die Demo war sogar noch lauter als die vom Vortag, so laut wie eine gigantische Beschallungsanlage, die man aus zwei Blöcken Entfernung hört, lauter sogar als die hupenden Autos, die sich ihren Weg außenrum suchten. Der Gehweg war bereits zu voll, also schlängelten wir uns wie Hunderte anderer Leute zwischen den gestauten Autos durch und wichen dabei, so gut es ging, den Fahrrädern und Motorrädern aus, die dasselbe versuchten. Bald konnten wir uns kaum noch bewegen und begriffen, dass wir uns nun mitten in der Demonstration befanden, selbst wenn um uns herum immer noch Autos standen. In einem saß eine gestresst wirkende Frau mit zwei kleinen Kindern auf dem Rücksitz, die gerade völlig durchdrehten, sich mit Spielzeug bewarfen und schrien wie am Spieß, auch wenn man durch die geschlossene Scheibe bloß die offenen Münder sah.
    Ich stellte Augenkontakt mit der erschöpften, resignierten Fahrerin her und dachte an all die anderen Leute, die in ihren Wagen festsaßen. Vielleicht wollten sie nach Hause, um den Kindern Essen zu machen, oder zur Arbeit, wo man sie für die Verspätung zurechtstutzen würde, oder ins Krankenhaus oder zum Flughafen. Kurz stellte ich mir vor, den Verkehrspolizisten zu spielen und all die Leute zu befreien, sie aus der Demo rauszulotsen, doch ich traute mir das nicht zu. (Später las ich, dass andere genau das gemacht hatten und die Menge sogar geholfen und sich geteilt hatte, und empfand sowohl Stolz auf meine Mitmenschen als auch Scham, dass ich es nicht selbst probiert hatte.)
    Bald kamen wir nicht mehr voran, ohne uns ständig lauthals bei denen vor uns zu entschuldigen, die sich gleichfalls bei denen noch weiter vorne entschuldigten.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte ich.
    »Echt irre.« Lemmy grinste breit.
    Auf einmal schien die Welt um mich kopfzustehen. Es war irre. Hunderttausende – Millionen? – meiner Nachbarn und Freunde hatten San Francisco besetzt, weil sie von den gleichen Dingen angepisst waren wie ich. Sie waren gekommen und setzten ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel, weil alles in dieser Gesellschaft einfach so … falsch und kaputt war. Hier ging es nicht bloß um die Darknet-Docs oder die Lobbys, die die Lage der verschuldeten Studenten noch weiter verschlimmern wollten. Nicht bloß um die Zwangsräumungen und die fehlenden Jobs. Nicht bloß um die Umweltzerstörung, den Klimawandel oder die Diktatoren, die wir im Ausland unterstützten, nicht nur um die privatisierten Gefängnisse im Inland – es war einfach alles zusammen : dass es all diesen schrecklichen Mist gab und niemand in der Lage zu sein schien, etwas dagegen zu unternehmen – weder unsere Politiker noch die Polizei, die Armee oder die Wirtschaft. Tatsächlich kam es einem häufig so vor, als würden Politik, Polizei, Armee und Wirtschaft genau das machen, was wir verhindern wollten, und alles, was ihnen dazu einfiel, war: »Uns gefällt es ja auch nicht, aber jemand muss es doch tun, oder?«
    Und hier war nun ein breiter Querschnitt meiner Heimatstadt, der aufgestanden war und sagte: FALSCH. AUFHÖREN. ES REICHT. Mir war klar, dass es sich bei all diesen Missständen um komplexe Probleme handelte, die ich nicht in ihrer Gesamtheit durchschaute, aber oft genug war »es ist kompliziert« auch nur eine Ausrede und keine Begründung. Man zog sich aus der Affäre, erklärte, dass sich nichts mehr machen ließe, zuckte die Schultern und ging wieder seinen Geschäften nach.
    Noch nie hatte ich so viele Menschen an einem Platz gesehen. Aus der Perspektive des Copters wirkte es, als wäre die ganze Stadt zum Leben erwacht, als hätten sich die Straßen aus leblosem Stein und Beton in einen lebendigen Menschenteppich verwandelt, der sich in alle Richtungen erstreckte. Es war beängstigend, und ich hatte keine Ahnung, wozu das noch alles führen würde, aber das war mir egal. Auf genau das hatte ich gewartet, genau das hatte passieren müssen. Nicht länger einfach nur Dienst nach Vorschrift, kein resigniertes Achselzucken mehr; von nun an hieß es nicht mehr »Was kann man schon dagegen tun?«, jetzt taten wir einfach etwas. Von nun an hieß es nicht mehr »Lauft im

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