[email protected] > Betreff: Webmaster
> Lieber Marcus,
> meine Wahlkampfleiterin Flor hat mir von Mitch Kapor bestellt, dass Du vielleicht unser Webmaster werden möchtest. Dein Name kam mir irgendwie bekannt vor, also habe ich mich umgehört, und Du kannst Dir ja denken, was dabei herauskam. Soweit ich das beurteilen kann, wärst Du der perfekte Kandidat für den Job. Könntest Du mich anrufen, sobald Du das hier gelesen hast? Wir sollten uns möglichst schnell kurzschließen, am besten vorgestern. Meine private Handynummer ist 510–314–1592.
> Joe
Ich las die Mail noch ein zweites Mal und griff nach meinem Handy. Alles andere hatte ich vergessen. Nach all den Monaten der Suche und des Bettelns bot mir jemand von sich aus einen Job an – und dann war er auch noch so cool, die ersten sieben Stellen von Pi als Teil der Handynummer zu haben. Wow.
Ich wählte seine Nummer ohne abzulesen – ernsthaft, das war die coolste Nummer aller Zeiten – und hörte es am anderen Ende klingeln. Gerade, als er abnahm, schaute ich nach der Uhr auf meinem Schirm, stellte fest, dass es schon beinahe elf Uhr abends war, und unterdrückte den Reflex, gleich wieder aufzulegen.
»Joseph Noss«, sagte er, und jap, das war er auch. Ich hatte seine Stimme oft genug im Fernsehen und auf YouTube gehört: ein tiefes Grollen wie von dem »Hier ist CNN «-Typen oder einem alten Soulsänger.
»Ähm«, sagte ich und kniff mich ins Bein, um mit dem Gestammel aufzuhören – ein Trick, den Ange mir beigebracht hatte. »Guten Abend, hier ist Marcus Yallow. Sie haben mir eine Mail geschrieben? Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät … «
»Überhaupt nicht, Marcus, ich war noch bei der Arbeit. Traurig, aber wahr – um elf Uhr abends herrscht für mich noch Hochbetrieb.«
»Geht mir ähnlich. War immer schon eine Nachteule.«
So seltsam es klingen mag, er war mir auf Anhieb sympathisch. Vielleicht lag es an der Stimme: Er klang wie jemand, der gründlich über alles nachdenkt und auch ein guter Zuhörer ist.
»Es freut mich, dass du dich meldest, Marcus. Ich weiß, dass du schon einmal politisch aktiv warst – aber wohl noch nicht auf der großen Bühne, wo es um Wahlen und so was geht, hab ich recht?«
»Ja, stimmt.« Den Versuch war’s wert, dachte ich. Ich brachte also doch nicht die Expertise mit, die er wollte.
Doch er erwiderte: »Das ist schon in Ordnung. Wir anderen kennen uns genügend damit aus. Pass auf, ich möchte dir mal kurz umreißen, welchen Herausforderungen wir uns gegenübersehen. Dann kannst du mir ja sagen, ob du glaubst, dass du uns dabei helfen kannst. Wie du weißt, gilt Kalifornien seit jeher als ein bisschen verrückt. Aber das, was wir vorhaben, ist selbst für kalifornische Verhältnisse gewagt. Du weißt, dass ich ein unabhängiger Kandidat bin?«
»Ja.«
»Die vorherrschende Meinung hier ist, dass ›unabhängig‹ so viel wie ›unwählbar‹ bedeutet. Die Demokraten und Republikaner haben alle großen Spender unter sich aufgeteilt, sie haben eine effiziente Wahlkampfmaschine, enge Freunde bei jedem Radio- und Fernsehsender und jeder Zeitung und landesweite Organisationen, die ihnen den Rücken stärken. Unabhängige Kandidaten gehen einfach mit einem Riesennachteil ins Rennen, und es wird noch schlimmer, wenn das Rennen knapp wird. Denn wenn wir nur ein bisschen Abstand gutmachen, rufen die großen Jungs ihre Freunde an und zerquetschen uns einfach.«
Er hielt kurz inne. »Ich hätte auch für die Demokraten antreten können. Die kennen mich noch von meiner Zeit im Rathaus und wissen, dass afroamerikanische Kandidaten in unserem Wahldistrikt gute Karten haben. Ich gelte als anständiger Kerl, dem man zutraut, ordentlich Spenden zu sammeln und hinterher, falls man mich wählt, trotzdem ehrlich und nüchtern zu bleiben. Und das ist schon mehr, als man von den meisten anderen Witzbolden behaupten kann. Ich hätte mich also nominieren lassen können. Unter uns gesagt, sie haben mich sogar mehrfach gefragt. Einen Wahlkampf mit Joe Noss schienen sie für eine sichere Sache zu halten. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich die Nominierung nicht wollte. Ich habe gesehen, wohin es führt, wenn man die Partei im Nacken hat: Man muss sich immer der Linie unterordnen. Das heißt, wenn dein Gewissen bei einer Abstimmung das eine will und die Parteidisziplin das andere, dann lässt du dein Gewissen besser eine Kröte schlucken. Das wäre ja vielleicht nicht mal so