Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Schließlich war er ja nicht mal mehr direkt für Schüler zuständig. Komischerweise hatte er trotzdem so häufig den Einsatz der Software verlangt, dass die zuständige IT -Abteilung ihm irgendwann entnervt seinen eigenen Login eingerichtet hatte. Jemand in der Abteilung war aber nicht glücklich über diese Entscheidung gewesen, und dieser Jemand hatte Freds Gebrauch der Software dankenswerterweise bei vielen, vielen, vielen Gelegenheiten dokumentiert.
Habe ich Gebrauch gesagt? Ich meinte natürlich Missbrauch.
»Das müssen wir einfach leaken«, sagte ich. »Ange, bitte! Meinst du nicht? Ganz im Ernst?«
»Tut mir leid, Marcus, aber ich halte es wirklich für eine dumme Idee. Gerade vorhin noch hast du andere deshalb angeschnauzt. Wenn du’s jetzt tust, werden alle es tun. Wir haben vereinbart, erst alles zu katalogisieren, dann zu priorisieren und schließlich in einer Form zu veröffentlichen, die uns nicht in Gefahr bringt. Wenn wir jetzt wegen so was auffliegen, ist es vorbei mit Masha und Zeb. Verdammt, dann ist es auch um uns geschehen. Du hast kein Recht, uns alle in Gefahr zu bringen, bloß um es einem ehemaligen Schulleiter heimzuzahlen, mit dem du noch eine Rechnung offen hast.«
»Aber er ist ein Spanner! Da geht’s nicht nur um mich. Die Menschen müssen doch wissen, dass er ihre Kinder ausspioniert. Das hätte auch ich sein können, Ange. Und ich hab immer noch Freunde an der Chavez High. Benson hasst sie – wahrscheinlich stellt er ihnen Tag und Nacht nach.«
»Du bist doch bloß besessen davon, dass er jetzt bei sich daheim sitzt und sich vor lauter Machtgeilheit die Hände reibt. Aber Benson ist nicht das schlimmste Monster in diesen Files. Schau dir lieber mal 339412 an.«
Ich scrollte und las die Zusammenfassung:
SCHIFFSFRACHTBRIEF DES AUSSENMINISTERIUMS . LIEFERUNG VON GERÄTEN ZUR KOMMUNIKATIONSÜBERWACHUNG AN SYRIEN . SIEHE AUCH 298120
Und 298120:
BOTSCHAFTSBERICHT ZU FOLTEROPFERN UNTER DISSIDENTEN NACH FESTNAHMEN MITTELS GERÄTEN ZUR KOMMUNIKATIONSÜBERWACHUNG
»Oh verdammt«, sagte ich.
»Ganz genau. Also reiß dich zusammen und lass den Scheiß. Das hier ist kein Kinderkram, das ist die Erste Liga.«
Ehe ich wütend auf Ange werden konnte – wie es einem manchmal passiert, wenn man total danebenliegt, jemand einen darauf hinweist und man keine Ausrede parat hat – , rief meine Mutter die Treppe hoch: »Marcus, Ange, Abendessen!«
Früher hatten wir solche Familienessen ziemlich häufig gehabt. Entweder Mom und Dad hatten ein großes Chaos aus Töpfen, Pfannen, Gerüchen und Geschepper angerichtet, oder wir hatten, wenn wir alle zu müde waren, Fertiggerichte bestellt. Sogar ich hatte gelegentlich gekocht, und es hatte sogar Spaß gemacht, auch wenn es einige Überwindung kostete, überhaupt damit anzufangen. Wenn ich vor einer leeren Küche stand, schien mir das erst mal immer wie eine unlösbare Aufgabe. Aber ich machte ein hervorragendes Lammkarree, und von meiner Pizza blieb nie etwas übrig, egal, wie viel ich davon machte.
Doch die Tradition war eingeschlafen, seit meine Eltern ihre Jobs verloren hatten. Manchmal war es die Leiharbeit, die sie zur Essenszeit noch aus dem Haus trieb, aber der eigentliche Grund war wohl, dass sie sich ohnehin den ganzen Tag auf der Pelle saßen, meistens war ich auch noch da, und von daher hatte niemand groß Lust, noch eine Stunde lang »Reich-mir-doch-bitte-die-Erbsen« zu spielen. Wir hatten einfach nicht mehr genug Smalltalk auf Lager. »Wie war dein Tag?« ist eine extrem blöde Frage, wenn man seit dem Aufstehen nie mehr als fünf Meter Abstand zueinander gehabt hat.
Wenn Ange zu Besuch war, gaben sich aber alle Mühe. Meine Eltern mochten sie. Hey, ich ja auch. Außerdem war es lustig, ihr beim Essen zuzusehen.
»Riecht gut!«, sagte sie wie immer, wenn sie die Küche betrat. Sie hatte bereits ihren Zerstäuber in der Hand. Als ich sie kennenlernte, hatte sie sich ihr Chili-Öl auf ungefähr 200000 Scoville eingestellt, was in etwa der Schärfe von Scotch-Bonnet-Chilis entspricht. Doch sie trainierte tapfer und beständig, um noch höhere kulinarische Weihen zu empfangen. Jeden Monat mischte sie sich etwas Neues: Ihre Ausgangsbasis war eine fest verstöpselte Flasche tödlich scharfer zermahlener Red-Savina-Habaneros mit ein paar Zentilitern Öl. Dieses Konzentrat verdünnte sie nach und nach immer weniger, bis sie das richtige Mischungsverhältnis herausbekommen hatte. »Richtig« hieß für Ange, dass ihr binnen einer
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