Little Miss Undercover - Ein Familienroman
denen stand: »Musste an Dich denken. Liebe Grüße, Rae.«
Beim Abendessen kam sie besonders gern auf die schädlichen Folgen von Alkoholkonsum zu sprechen, hin und wieder erteilte sie auch Ratschläge zur gesunden Ernährung (ich wies Rae dann mit schöner Regelmäßigkeit darauf hin, dass sie gewissermaßen im Glashaus saß). Mit großem Eifer trug sie alle Fakten zusammen, die sich über Drogen- und Alkoholmissbrauch auftreiben ließen, und suchte sogar einen Experten für Heilkräutertherapien auf. Der gab ihr einen Extrakt mit, den Rae unserem Onkel ins Essen mischte und manchmal auch ins Bier. Als sie versuchte, einem Treffen der Anonymen Spielsüchtigen beizuwohnen, wurde sie hochkant hinausgeworfen. Enttäuscht wandte sie sich den Anonymen Alkoholikern zu, denen sie bei jedem Treffen den unaufhaltsamen Abstieg ihres Onkels in die Niederungen der Sucht schilderte. Dabei nahm die Saga im Lauf der Zeit immer neue dramatische Wendungen, bis sie am Ende mit Onkel Rays Leben nichts, aber auch gar nichts mehr gemein hatte.
Unsere Eltern waren sehr geneigt, ein Auge zuzudrücken, weil Raes jüngste Obsession sie zumindest von der Straße fernhielt. Solange sie ihre intensiven Leberstudien betrieb und Vorträge hielt, konnte sie keine wildfremden Menschen beschatten. Bei uns gilt so was schon als Fortschritt, auch wenn sich Mom und Dad keine Sekunde der Illusion hingaben, es könnte Rae mit ihrem Engagement gelingen, Onkel Ray von seinen Gewohnheiten abzubringen. Diesen Versuch hatten wir schon vor Jahren unternommen. In der Hinsicht glich er einer Porzellanpuppe: Hatte man sie ein Mal fallen gelassen, konnte kein Klebstoff der Welt die ursprüngliche Schönheit wiederherstellen.
Onkel Ray plumpste auf einen Drehstuhl und legte den Kopf auf Dads Schreibtisch. In diesem Moment betrat meineSchwester das Büro, mit einem riesigen Medizinwälzer im Arm: Funktionen und Funktionsstörungen der Leber.
»Warte«, rief Rae. »Du hast dir diese eine Leber noch gar nicht angesehen, zehn Jahre Zirrhose.«
Onkel Ray warf seinem Bruder einen flehentlichen Blick zu.
»Schätzchen, gib mir das Buch«, sagte Dad.
Rae reichte ihm den Wälzer.
»Du hast mir doch geraten, mehr Zeit in der Bibliothek zu verbringen«, protestierte sie.
»Hab ich das? Warte in der Küche auf mich. Wir müssen reden.«
Rae verdrehte die Augen, stöhnte demonstrativ und stampfte aus dem Raum. Dad wandte sich an seinen Bruder: »Ich tue, was ich kann, versprochen.« Dann folgte er seiner jüngeren Tochter in die Küche.
Ich lehnte gedankenverloren an meinem Schreibtisch. Onkel Ray hob den Kopf, drehte sich zu mir und sagte: »Ich will doch nur in Ruhe mein Bierchen trinken und ein paar Erdnüsse einwerfen. Ist das zu viel verlangt?«
Seit ich in meiner Wohnung die Abhörvorrichtung gefunden hatte, wollte ich ausziehen, doch bisher hatte ich wegen des Snow-Falls und des Drogen-Deals keine Zeit gehabt, mir eine neue Bleibe zu suchen. Bis mir irgendwann einfiel, wo ich unterkommen könnte. Sofort machte ich mich ans Packen. Ein paar Stunden später klopfte Rae, sie wollte mir ein wenig Gesellschaft leisten. Kaum war sie drinnen, begann sie hinter meinem Rücken, alles wieder auszupacken, bis ich ihr auf die Schliche kam. Ich nahm sie buchstäblich hoch und setzte sie vor die Tür. Danach schob ich den Sicherheitsriegel vor.
Als mich das Packen irgendwann langweilte, beschloss ich, mir den Schlüssel zu meinem Unterschlupf zu besorgen. Auf dem Weg nach unten traf ich Mom in Bademantel und Hausschlappen auf der Treppe.
»Was hast du vor, Süße?«, fragte sie.
»Nichts«, entgegnete ich schlau.
»Ich liebe dich«, sagte Mom mit eigenartig tonloser Stimme. Als wollte sie mich daran erinnern. Dabei hatte ich nie an der Liebe meiner Eltern gezweifelt. Nur dass in unserer Familie Liebe nicht ohne Stachel daherkommt. Und manchmal war ich es leid, mir die vielen Wunden zu lecken, die dieser Stachel hinterließ.
Prompt setzte Mom sich in ihr Auto und wartete darauf, dass ich mit meinem losfuhr. Diesmal versuchte ich nicht einmal, sie abzuschütteln. Diesmal hatte ich nichts zu verbergen.
Ich hielt in Davids Einfahrt, während Mom auf der Straße in zweiter Reihe parkte. Sie blieb im Wagen sitzen.
David öffnete auf mein Klopfen hin die Tür.
»Isabel! Was hast du hier verloren?«
»Es heißt: Hallo. Wie geht es dir?«, sagte ich.
»Hi. Tut mir leid. Was gibt’s?«
»Jetzt mal ehrlich, David. Hast du dir Botox spritzen lassen?«
»Nein.«
»Ist
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