Little Miss Undercover - Ein Familienroman
zitterten mir die Hände so sehr, dass es eine halbe Ewigkeit dauerte. Zwischendurch dachte ich sogar, die Schlösser seien ausgetauscht worden. In der Eingangshalle fing ich an, Raes Namen zu brüllen.
Ich hämmerte mich von Tür zu Tür, bis ich Raes Zimmer erreichte. Es war verschlossen. Um das Schloss zu knacken, waren meine Hände noch zu zittrig. Also trat ich zwei Mal gegen die Tür, die sich keinen Millimeter bewegte, kein Wunder: Verriegelte Türen lassen sich nie eintreten. Ich rannte in die Kammer, holte eine Axt und stieg wieder nach oben. Damit hieb ich so lange auf das Schloss ein, bis drum herum das ganze Holz zersplittert war. Ich legte noch einmal mit dem Fuß nach. Die Tür sprang auf.
Onkel Ray hatte mir vom anderen Flurende aus zugesehen.
»Ich hätte dir einen Schlüssel geben können«, sagte er. Dann nahm er das Telefon, um Mom und Dad anzurufen.
In Raes Zimmer war es unheimlich still. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Das Bett war nicht gemacht – wie immer. Der Boden war mit Klamotten übersät, wie es sich für einen sorglosen Teenager gehörte. Dieses Zimmer wartete nur darauf, dass sie zurückkehrte, doch bisher war Rae nicht zurückgekehrt.
Beim Durchstöbern ihres Schreibtisches fiel mir ihr Adressbuch in die Hände. Ich rief ihre beiden einzigen Freundinnen an, keine wusste, wo Rae war oder sein könnte. Onkel Ray kontaktierte seine Kumpels bei der Polizei. Sie erklärten sich bereit, die Vermisstenanzeige so früh wie möglich aufzunehmen.
In der Eingangshalle stieß ich mit meinen Eltern zusammen. Mit gesenktem Blick erklärte ich ihnen, dass ich jetzt unsere Gegend absuchen würde. Das sagte ich vor allem, weil ich dringend rausmusste. Mir war so übel, dass die diesige Luftnichts mehr ausrichten konnte. Kaum hatte ich das Haus verlassen, kotzte ich in Moms Blumenbeet (nicht zum ersten Mal). Zwischen zwei heftigen Schüben klingelte mein Handy.
»Isabel, wo bleiben Sie?« Es war diese verdammte Stimme.
»Haben Sie das getan?«, fragte ich.
»Was getan?«
»Meine Schwester entführt. Waren Sie das?«
»Ich verstehe nicht ...«
»Wenn Sie ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, ist es aus mit Ihnen. Aus. Haben Sie mich verstanden? Die werden Sie umbringen!«
»Wer?«
»Mein Vater wird Sie umbringen. Oder meine Mutter. Oder beide zusammen. Ist sie bei Ihnen?«
»Wer?«
»Lassen Sie meine Schwester frei«, sagte ich. Die Verbindung brach ab.
Die Befragung
Teil 6
Stone sammelt die Unterlagen ein. Sortiert sie fein säuberlich. Dann nimmt er den Stapel hoch und klopft die Kanten gerade. Danach fährt er mit dem Finger darüber, um den Grad der Geradheit zu überprüfen. Sein Finger stößt auf eine Unebenheit. Da klopft Stone die Kanten ein weiteres Mal gegen den Tisch. Und noch einmal. Schließlich schiebt er den ganzen Stapel in eine nagelneue Aktenmappe und streicht über den flachen Deckel, der ihm offenbar nicht flach genug ist.
»Dagegen gibt es heutzutage wirksame Therapien«, sage ich.
»Ich denke, das war’s, Isabel. Sollte Ihnen noch was einfallen, rufen Sie mich bitte an.«
»Sie sollten sich die Snows vorknöpfen.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Snows unseren Erkenntnissen nach nichts mit diesem Fall zu tun haben.«
»Aber sonst gibt es nicht die geringste Spur.«
»Es ist vieles denkbar.«
»Sie ist nicht von zu Hause ausgerissen. Und sie weiß sich zu wehren.«
»Es könnte sich um eine zufällige Entführung handeln.«
»Halten Sie das für wahrscheinlich? Ich kenne die Statistik.«
»Danke, Isabel. Sie sollten jetzt schlafen gehen.«
Inspektor Stone steht auf. Als ich ihn am Arm packe, erstarrt er.
»Sagen Sie mir die Wahrheit. Ist sie tot? Glauben Sie, dass sie tot ist?« Von den Worten allein wird mir ganz flau. Auf einmal wäre es mir lieber, keine Antwort von ihm zu bekommen.
»Hoffentlich nicht«, sagt er.
V ERMISST
Raes Verschwinden war einfach unerklärlich. Und keiner in der Familie konnte sich eine glückliche Zukunft ausmalen. Im Haus breitete sich eine eigentümliche Stille aus, weil Raes Plappern fehlte und wir unter Schock standen. Unsere Unfähigkeit zu sprechen war geradezu pathologisch. Manchmal brachten wir es nicht einmal fertig, einander in die Augen zu sehen. Die letzte Schlacht war gerade erst geschlagen, da konnte keiner den anderen stützen. Die Frontenbildung blieb bestehen. Ich kehrte mit Sack und Pack nach Hause zurück und schlief in Raes Zimmer, für den Fall, dass jemand ihre Nummer
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