Little Miss Undercover - Ein Familienroman
beenden. Meine Eltern reagieren gelassener als erwartet. Dad schüttelt den Kopf, flüstert meinen Namen. Mom wendet sich ab, damit ich ihr die Wut nicht ansehe. Ich stecke das Messer wieder in die Tasche, dann gehe ich mit einem Achselzucken zurück.
»Ihr habt es nicht anders gewollt.«
Nachdem ich mir auf diese Weise genug Luft verschafft habe, fahre ich los. Über die Mission Street steuere ich die Zufahrt zur Bay Bridge an. Nach einem Unfall auf der South Van Ness ist der Verkehr lahmgelegt, so dass mein Freiheitsrausch vom Gehupe auf der Straße und vom Ticken der Uhr auf dem Armaturenbrett nachhaltig gedämpft wird. Bald gebe ich jede Hoffnung auf, es in den nächsten zwanzig Minuten über die Brücke bis zur West Oakland Station zu schaffen.
Gerade als ich in der Thirteenth Street auf die Rampe fahren will, klingelt mein Handy.
»Hallo?«
»Izzy, hier ist Milo.«
»Was gibt’s?«
»Hol deine Schwester hier raus, bevor die Bullen meine Bar schließen.«
»Milo, ich kann gerade nicht. Hast du’s bei Onkel Ray probiert?«
»Ja, aber er geht nicht ran. Dann habe ich eben deinen Dad angerufen, der sagte mir, dass du seinen Reifen aufgeschlitzt hast. Warum, will ich gar nicht wissen. Ich will nur, dass diese Minderjährige aus meiner Bar verschwindet. Es ist Samstagabend, verdammt.«
»Gib sie mir!«
Als Erstes sagt Rae: »Eure Schuld, wenn ich zur Säuferin werde.«
»In zehn Minuten hole ich dich ab. Rühr dich nicht vom Fleck!«
Kaum habe ich aufgelegt, klingelt mein Handy erneut.
»Isabel.«
»Ja.«
»Sie sind spät dran«, sagt die undefinierbare Stimme.
»Ich frage Sie noch mal: Wer sind Sie?«
»Ich dachte, Sie wollen diesen Fall endlich lösen?«
»Ich brauche noch eine Stunde. Meine kleine Schwester treibt sich wieder in Bars herum.«
»Sie haben genau fünfundvierzig Minuten. Dann bin ich weg.«
Kurz bevor ich den Philosopher’s Club erreiche, klingelt es wieder.
»Izzy, Milo hier. Sag Rae, dass sie ihren Schal vergessen hat.«
»Warum sagst du es ihr nicht selbst?«
»Hast du sie nicht gerade abgeholt?«
»Nein.«
»Aber sie ist nicht mehr da.«
V ERSCHWUNDEN
Den Rest der Strecke nahm ich den Fuß nicht mehr vom Gas. Vor der Bar trat ich voll auf die Bremse und parkte in zweiter Reihe. Dann stürmte ich durch die Tür. Ein Blick in Milos Gesicht genügte, mir den Ernst der Lage bewusstzumachen.Angst zeigt sich oft in einer eigenartigen Form von Ausdruckslosigkeit. Angst lässt einem das Blut aus dem Gesicht weichen, dafür erhöht sich als lebenserhaltende Maßnahme die Herzfrequenz. Milo war merklich blasser geworden. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, aber das Gesagte ging im Kneipenlärm unter, und ich hörte nur meinen eigenen Atem. Zuerst bahnte ich mir unter heftigem Ellenbogeneinsatz einen Weg in den hinteren Teil. Als Zweites überprüfte ich die Toiletten und den Hinterausgang.
Milo wies zum Vordereingang, dann ging er mit mir raus. Er zeigte mir die Stufe, wo Rae zuletzt gestanden hatte, während sie auf mich wartete. Milo und ich drehten eine Runde um den Block und befragten alle Passanten. Danach nahmen wir das Auto, um alle Seitenstraßen in einem Umkreis von fünf Kilometern abzusuchen. Ich rief drei Mal zu Hause und zwei Mal auf Raes Handy an. Vor der Bar suchten wir noch einmal alles ab. Wieder versuchte ich, sie auf dem Handy zu erreichen. Da hörte ich es. Ich hörte Raes Handy klingeln. Milo nahm den Deckel von der Mülltonne, in der das Handy obenauf lag. Ich nahm es an mich.
»Dafür gibt es sicher eine simple Erklärung, Izzy. Vielleicht hat sie das Handy verloren, und dann hat es jemand weggeworfen.«
Auf dem Heimweg verstieß ich gegen sämtliche Verkehrsregeln. Auf dem Heimweg dachte ich, dass etwas Entsetzliches passiert sein musste, etwas, das man nicht ungeschehen machen konnte. Auf dem Heimweg versuchte ich, mir unser letztes Zusammentreffen in Erinnerung zu rufen, und hoffte inständig, es sei nicht buchstäblich das letzte gewesen.
Auch wenn Rae erst seit einer Stunde vermisst wurde, wusste ich bereits, dass es sich nicht bloß um ein Missverständnis handelte. Meine Schwester verschwindet nicht einfach so. Das ist nicht ihr Stil. Rae kommuniziert gern. Sie ruft an. Sie lässt sich lieber fahren, als öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie teilt uns alles mit, was ihr in den Sinn kommt.Und wenn man sie bittet, sich nicht vom Fleck zu rühren, dann rennt sie ganz bestimmt nicht weg.
Als ich unsere Haustür aufschließen wollte,
Weitere Kostenlose Bücher