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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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sich an meine Fersen heften konnte. Auf dem Beifahrersitz lag noch immer die Karte mit den Markierungen fürsämtliche Motels der Gegend. Anhand der Kriterien »Nähe« und »Sauberkeit« entschied ich mich für das Flamingo Inn in der Seventh Street.
    Ich checkte ein und bekam ein Zimmer im zweiten Stock zugewiesen, ohne nennenswerte Aussicht und mit breitem Doppelbett. Diese schäbigen Räume, so karg eingerichtet, dass die pompösen Brokatüberwürfe den einzigen Blickfang abgeben, haben etwas Tröstliches an sich. Vor lauter Unvertrautheit atmet es sich leichter, man hat das Gefühl von Freiheit. Ich stellte mir vor, wie es wäre, länger hier zu wohnen. Wie viel würde das pro Woche, pro Monat oder sogar pro Jahr wohl kosten? Ich stellte mir vor, wie ich in einem Motel lebte, einem Paralleluniversum, in dem alles Vergangene ausgelöscht wäre.
    Dafür brauchte man allerdings Geld. Meinen letzten Gehaltsscheck hatte ich vor drei Wochen empfangen. Das Guthaben auf meinem Konto schmolz zusehends, und Sparen war nie meine Stärke gewesen. Das Zimmer hatte ich im Voraus bar bezahlt; mein Kontostand ließ höchstens zwei weitere Übernachtungen zu.
    Als ich mich eingerichtet hatte (die Tasche aufs Bett geworfen und die Jacke ausgezogen), durchwühlte ich meine komplette Brieftasche. Bei jeder Kreditkarte rief ich den Kundendienst an, um zu erfahren, über wie viel Geld ich jeweils noch verfügen konnte. Mein Girokonto und zwei Kreditkarten ergaben insgesamt 1 500 Dollar. Außerdem hatte ich im Futter meiner Brieftasche noch die Notfallkarte versteckt. Doch als ich beim Griff in die abgewetzte Lederbrieftasche den Finger durch das Loch im Futter des Geldscheinfachs steckte, stieß er ins Leere.
    Ein halbes Dutzend Mal durchsuchte ich mein Portemonnaie, bis der gesamte Inhalt auf dem Bett verstreut lag. Aber die Karte, die Notfallkarte war weg. Ich konnte dafür auch keinen Ersatz beschaffen, weil ich die Nummer nicht auswendig wusste. Sie stand auf einem Zettel, den ich unter meineSchreibtischplatte geklebt hatte, im Büro, in dem ich nicht mehr arbeitete. Und so würde ich am nächsten Morgen in mein Elternhaus einbrechen müssen.
    Ich stellte den Wecker auf fünf Uhr früh und wollte schlafen. Dabei versuchte ich, Schafe zu zählen, bis mir auffiel, dass es viel befriedigender war, die Löcher im Deckenstuck zu summieren. Beides half nicht. Und so stand ich lange vor dem Weckerklingeln auf, sprang unter die Dusche und dann in die Klamotten. Nach zwanzig Minuten hatte ich den Wagen an der Straßenecke vor dem Haus meiner Familie abgestellt, war über den Hinterhof zur Feuerleiter gelangt und zu meiner alten Wohnung hochgeklettert (das Schlafzimmerfenster ließ sich über einen versteckten Zug von außen öffnen). Als echte Meisterdiebin schlich ich über die Treppe ins Büro. Die Tür war abgeschlossen, aber ich hatte noch den Schlüssel – und sie hatten die Schlösser noch immer nicht ausgetauscht. Ich nahm den Zettel mit meinen PINs an mich und stieg schnell aus dem Bürofenster. Kaum saß ich im Auto, rief ich beim Kreditkartenunternehmen an.
    Inzwischen wurde meine Schwester seit fünf Tagen vermisst.

D IE LETZTE S CHLACHT
    »Isabel Spellman« hatte vor fünf Tagen im Motel 6 eingecheckt, in Flughafennähe. Von der Clay Street aus waren das dreißig Minuten Fahrt. Doch mir kam es so vor, als sei ich höchstens dreißig Sekunden unterwegs gewesen. Ich saß noch im Auto, unfähig, mich zu rühren, und dachte über den nächsten Schritt nach. Jetzt wusste ich, was geschehen war, und dieser Tatsache musste ich ins Auge sehen. Außerdem wollte ich alles dokumentieren, was gleich folgen sollte.
    Ich steckte meine Digitalkamera in die Jackentasche, stieg aus und ging über den Parkplatz zum Motel.
    Da sah ich sie. Rae. Wie sie, von der anderen Seite kommend,die Straße überquerte, den Arm voller Süßigkeiten (der heftig gezuckerten Sorte), die sie vermutlich gegenüber im 24-Stunden-Laden besorgt hatte. Als sie mich bemerkte, drückte ihr Gesicht deutlich mehr aus als tausend Worte. Rae ließ eine Packung Ding Dongs fallen und machte keine Anstalten, sie wieder aufzuheben. Stattdessen starrte sie mich an, angstvoll, wie gelähmt, während sich in ihren Augen das ganze Ausmaß ihres Schuldbewusstseins spiegelte. Das bestätigte, was ich ohnehin schon wusste: Meiner Schwester war nichts Böses widerfahren. Sie war keineswegs von zu Hause ausgerissen. Sie litt auch nicht an Amnesie. Sie hatte die letzten fünf Tage an

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