Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Verschwinden betrat ich um halb acht das Zimmer meiner Schwester. Ich schaltete die Leselampe über dem Bett an, in der Hoffnung, dass der schwache Lichtstrahl nicht durch das Loch in der Tür dringen würde. Wäre das Schutzgeld nicht entdeckt worden, das David zwei Jahre lang berappt hatte, würde Inspektor Stone immer noch davon ausgehen, Rae sei ausgerissen.
Obwohl die letzten sechs Durchsuchungen nichts ergeben hatten, nahm ich eine weitere vor. Ohne zu wissen, wonach ichfahndete, aber so war ich wenigstens beschäftigt. Als ich Raes Kleiderschrank öffnete, fielen ganze Stapel von Kleidung und anderem Zeug heraus. (Seltsamerweise hatte Mom die alte Unordnung eins zu eins wiederhergestellt.) Ich war zu müde, um alles wieder zurückzulegen, stattdessen schaute ich unter Raes Bett nach, in den Schubladen der Kommode, ich hob sogar ihre Matratze an. Danach nahm ich mir ihren Schreibtisch vor. Ich zog alle Schubladen auf und wühlte mich durch Raes gesammelte Observationsberichte, Hausaufgaben und verdorbene Süßigkeiten. Dann fiel mir etwas auf, das uns allen bisher entgangen war: Eine der Schreibtischschubladen wirkte flacher als die anderen. Das Papierzeug darin warf ich achtlos zur Seite. Dann fuhr ich mit meinem Taschenmesser am Rand entlang, um eine Einkerbung zu finden, die mir erlauben würde, den Boden hochzustemmen. Als ich das passgenau gezimmerte Stück Holz herauszog, fragte ich mich, ob Rae es wohl im Werkunterricht angefertigt hatte.
Den doppelten Boden legte ich auf den Tisch und schaute in die flache Höhlung darunter. Dort lag ein Buch mit rotem Ledereinband, das ich noch nie gesehen hatte. Das schimmernde Material und der unversehrte Rücken deuteten darauf hin, dass es sich noch nicht lange in Raes Besitz befand. Es war eins dieser handelsüblichen Sammelalben. Auf den ersten Blick schien es bloß eine Reihe netter Familienschnappschüsse zu enthalten. Bei näherem Hinsehen stellte sich jedoch heraus, dass es keineswegs so harmlos war. Normale Fotos werden nicht konsequent aus der Vogel- oder Froschperspektive aufgenommen, die Körnung war zu grob, oft war das Objekt zum Teil verdeckt oder verdunkelt – beispielsweise von einem Kettenzaun oder durch ein schmutziges Fenster. Es waren Observationsfotos, als Familienalbum getarnt.
Die ersten Seiten waren Onkel Ray gewidmet – überwiegend von oben fotografiert, während er aus einem Taxi torkelt und seine Feinmotorik danach auf eine harte Probe stellt (wie steckt man den Schlüssel ins Schloss), also sein typisches frühmorgendlichesRitual. Danach kam unser Vater an die Reihe. Diese Fotos zeigten den heimlichen Vielfraß in Aktion – seit Jahren behauptete Dad, er würde Diät halten, und schlug sich dann nachts den Bauch voll. Wir wussten alle Bescheid. Vielleicht hatte Rae seine Völlerei festgehalten, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Es gab auch Fotos von Mom, die mit Jake Hand auf der Veranda rauchte, und eine verwackelte Totale von David und Petra, die händchenhaltend die Market Street entlanggingen. Natürlich war auch ich nicht vergessen worden. Rae hatte meine ersten drei Dates mit Daniel dokumentiert, außerdem gab es einen peinlichen Schnappschuss von mir ohne Oberteil, als ich mich wieder einmal im Auto hatte umziehen müssen. Ähnlich offenherzige Bilder existierten auch von ihren Schulkameraden und Lehrern; wäre ich vor Sorge nicht schon außer mir gewesen, hätte ich angefangen, mir Sorgen zu machen.
Ohne recht zu wollen, blätterte ich das Album bis zum Ende durch. Es war wie mit allem in letzter Zeit. Ich tat es, weil ich nichts anderes zu tun wusste. Das eine Foto, mit Teleobjektiv aufgenommen, hätte ich dabei leicht übersehen können. Es hatte eigentlich nichts Besonderes an sich: Zwei Männer geben sich die Hand. Ich erkannte das braun-grün karierte Hemd meines Vaters wieder, ein Hemd, das er besonders gern trug. Der andere Mann interessierte mich nicht weiter. Es gab wirklich keinen Grund, genauer hinzusehen, doch ich tat es. Und holte schließlich eine Lupe, um die Züge zu mustern, die mir bei aller Grobkörnigkeit inzwischen vertraut waren.
Inspektor Henry Stone.
Inspektor Stone, der meinem Vater die Hand gibt.
Die Aufnahme war undatiert, aber da Dad unlängst zum Friseur gegangen war, konnte ich mich an seinem Haarschnitt orientieren. Das Foto war eindeutig vor Raes Verschwinden entstanden. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb die beiden zusammenstanden.
Man könnte einwenden, dass ich wieder
Weitere Kostenlose Bücher