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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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ausging. Mit gesunder Ernährung hatte er nichts mehr am Hut. Meistens aß er Käse mit Kräckern und trank dazu kistenweise billiges Bier. Mit der seriellen Monogamie war es auch vorbei. Von nun an sollte Onkel Ray sich mit ganzen Damenmannschaften vergnügen.
    Natürlich lässt sich festhalten, dass es mit dem neuen Onkel Ray lustiger zuging als mit dem alten. Allerdings vertrat außer mir niemand diesen Standpunkt. Das erste Jahr, nachdem ihn DieseScheißSchlampe verlassen hatte, verbrachte Onkel Ray bei uns. Danach nahm er sich eine Einzimmerwohnung in Sunset, gleich um die Ecke des Plough and Stars Pub. Die American-Football-Saison verlebte er in unserem Wohnzimmer, wo er mit Dad die Spiele guckte. Dabei stapelte Ray die Bierdosen neben seinem Sessel zu einer formvollendeten Pyramide – mit einer breiten Basis, die zuweilen aus acht Dosen bestehen konnte. Einmal ließ mein Vater eine Bemerkung über Rays neue Diät und über seine Enthaltsamkeit in Fitnessfragen fallen. Mein Onkel erwiderte: »Das gesunde Leben hat mich krank gemacht. Damit ist jetzt Schluss.«
D IE VERLORENEN W OCHENENDEN
    Als Onkel Ray das erste Mal verschwand, war ich fünfzehn. Er kam am Freitagabend nicht zum Essen und auch nicht am Sonntagmorgen zum Footballgucken. Fünf Tage lang ging er nicht ans Telefon. Mein Vater fuhr zu ihm und sah lauter Post und Werbung aus seinem Briefkasten hervorquellen, der bestimmt eine Woche nicht geleert worden war. Er brach die Schlösser zu Rays Wohnung auf, fand die Spüle voll dreckigem Geschirr, im Kühlschrank kein einziges Bier und drei ältere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Mit Hilfe seines ausgeprägten Spürsinns machte Dad Onkel Ray drei Tage später bei einem illegalen Pokerspiel in San Mateo ausfindig.
    Sechs Monate später war er wieder verschwunden.
    »Ray gönnt sich wahrscheinlich wieder ein Verlorenes Wochenende«, sagte meine Mutter im Flüsterton zu Dad. Da hörte ich schon zum zweiten Mal diese Anspielung auf den Filmklassiker von 1945, eine Art Abschreckungsgeschichte mit Ray Milland in der Hauptrolle. Wir hatten diesen Film malim Englischunterricht zu sehen bekommen, der Grund ist mir entfallen. Ich weiß aber noch, wie ich dachte, dass sich ein ausschweifender Lebenswandel im Jahr 1945 harmlos ausnimmt gegen heutige Verlotterungstendenzen. Trotzdem blieben mir Moms Worte im Gedächtnis haften, und auch wenn mir bei den ersten beiden Wochenenden noch schleierhaft war, wo Onkel Raymond was trieb, wusste ich beim dritten Mal schon bestens Bescheid. Womit wir wieder bei der Liste wären, die ich vorhin erwähnte:
    Die drei Phasen meiner Quasi-Seelenrettung
    • Phase 1: Das Verlorene Wochenende Nr. 3
    Dieses Wochenende dauerte zehn Tage. Die Suche nahmen wir erst am vierten Tag auf. Die Telefonnummern und Namen, die mein Vater im Lauf der ersten beiden mysteriösen Abwesenheitsfälle gesammelt hatte, lagen inzwischen säuberlich in alphabetischer Reihenfolge abgetippt und abgeheftet in seiner Schreibtischschublade. Mom, Dad, David und ich nahmen uns jeweils ein Viertel dieser Liste vor und telefonierten sie ab. Nachdem die vorliegenden Nummern noch viele weitere generiert hatten, fanden wir schließlich heraus, dass Onkel Ray Zimmer Nr. 385 des Excalibur in Las Vegas bezogen hatte, eine Kombination aus Hotel, Erlebnispark und Kasino. Anders als diese berühmten Hunde, die beim Zelturlaub verlorengehen und es dann irgendwie schaffen, die vierhundert Kilometer völlig ausgehungert und dehydriert zum Haus ihrer Herrchen zurückzuhinken, schien Onkel Ray nie den Weg zurück zu finden, auch wenn er ebenfalls dehydriert war.
    Dad beschloss, mich bei diesem »Ausflug« mitzunehmen. David wäre gern dabei gewesen, aber zu diesem Zeitpunkt musste er noch einen Haufen Anmeldeformulare fürs College ausfüllen. Bald stellte sich heraus, dass es keineswegs eine lustige Ferienfahrt werden würde, die der Vater mit seiner Tochter unternahm. Die Einladung meines Dads entsprach inetwa einem Aufklärungsnachmittag in der Schule, bei dem es um die Gefahren von Alkohol- und Drogenmissbrauch geht.
    Um fünf Uhr morgens hämmerte Dad an meine Tür. Um sechs sollten wir bereits unterwegs sein. Ich schlief bis 5.45 Uhr, als mein Vater misstrauisch wurde, weil aus meinem Zimmer kein Laut drang. Dafür wurde er umso lauter. Eine Reihe krachender Schläge donnerte gegen meine Tür, gefolgt von der kehligen Aufforderung, meinen faulen Arsch endlich aus dem Bett zu bequemen . Binnen fünfzehn Minuten hatte

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