Little Miss Undercover - Ein Familienroman
in den Flur.
»Hallo«, flüsterte ich.
»Wo steckst du?« Er flüsterte nicht.
»In einem Café«, antwortete ich, in der Hoffnung, die Flüsterei damit zu erklären.
»Na großartig. Du solltest schon vor einer Viertelstunde bei mir im Büro sein.« Er schäumte.
Wusste ich’s doch, dass mir was entfallen war. Und zwar nicht nur die letzten zwölf Stunden. Um neun Uhr früh hatte ich einen Termin mit Larry Mulberg, Personalchef von Zylor Corp. – ein Pharma-Unternehmen, das die ganzen Hintergrundrecherchen outsourcen wollte. Hin und wieder schanzt uns David Aufträge seiner Klienten zu. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt bereits dreiundzwanzig war, hätte man mir kaum eine so heikle und verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, wenn Mulberg den Termin nicht so kurzfristig anberaumt hätte. Andere Termine standen nicht zur Auswahl, doch Mom und Dad waren gerade beruflich unterwegs. Vielleicht hätten sie auch Onkel Ray bitten können, für sie einzuspringen, aber er weigert sich, morgens vor zehn Uhr aufzustehen; außerdem wusste man nie – wie bei Grippe oder Hautausschlag –, wann das nächste Verlorene Wochenende bevorstand.
Zwar machte es mir nicht das Geringste aus, bei dem einen oder anderen hundsgewöhnlichen Auftrag zu patzen, aber um nichts in der Welt wollte ich mir in diesem Fall einen Fehler leisten. Damit würden dem Familienunternehmen zusätzliche Jahreseinnahmen von zigtausend Dollar flöten gehen, was sich auch meine Eltern nicht leisten konnten. Ich flitzte durch die Bude der unbekannten männlichen Person, klaubte meine Klamotten vom Boden und zog mich so rasend schnell an, als winke dafür Olympisches Gold. In Gedanken sah ich mich bereits auf dem Siegertreppchen stehen, als ich feststellen musste, dass ich meinen zweiten Schuh nirgendwo finden konnte – das Gegenstück zum blauen Sneaker an meinem rechten Fuß.
So humpelte ich die Mission Street entlang wie Ratso Rizzo in »Asphalt-Cowboy«. Dabei dachte ich fieberhaft über eineMöglichkeit nach, wie ich mit zwei passenden Schuhen und frisch geduscht zum Termin erscheinen konnte. Doch wo sollte ich vor neun Uhr in der Früh neue Schuhe auftreiben? Die Zeit lief mir davon. Ein Blick in meine Geldbörse verriet, dass mir für die U-Bahn genau ein Dollar blieb. Vorsichtig ging ich die bepissten Stufen zur Twenty-fourth and Mission-Station hinunter und legte mir für David eine Entschuldigung zurecht.
Eine halbe Stunde nach dem Telefonat mit meinem Bruder kam ich im zwölften Stock der Sutter Street Nr. 311 an, eine Viertelstunde zu spät für den Mulberg-Termin. Ich sollte vielleicht erklären, dass David da bereits Partner in der Anwaltskanzlei von Fincher, Grayson, Stillman & Morris war. Nach der Highschool hatte er in Berkeley Wirtschaft und Englische Literatur studiert und in beiden Fächern magna cum laude abgeschlossen. Danach studierte er Jura in Stanford. Dort hat er vermutlich auch sein Mitgefühl und seine unendliche Geduld eingebüßt. Als er im zweiten Studienjahr von Fincher, Grayson & Co angesprochen wurde, wusste David inzwischen, dass nicht alle Familien so waren wie unsere und dass seine Vollkommenheit ihm keine Gewissensbisse verursachen sollte. Als er begriffen hatte, dass ich nicht seine Schuld war, hörte er umgehend damit auf, meine Fehler auszubügeln.
Die Kanzleiräume betrat ich durch eine Hintertür, um nicht gesehen zu werden. Hoffentlich hatte David Mulberg am Empfang warten lassen, dann konnte ich mich im Vorfeld noch kurz frischmachen. Durch labyrinthgleiche Flure schleichend, versuchte ich, mir die exakte Lage von Davids Büro in Erinnerung zu rufen. Wie immer kam er mir zuvor und zog mich in einen Besprechungsraum.
»Unfassbar, dass du dich so in ein Café traust«, sagte David.
Offenbar sah ich noch schlimmer aus, als ich dachte. Zeit für eine Beichte. »Ich war nicht im Café.«
»Was du nicht sagst. Wie heißt der Kerl?«
»Hab ich vergessen. Wo ist Mulberg?«
»Er ist spät dran.«
»So spät dran, dass ich noch schnell nach Hause fahren und unter die Dusche springen kann?«
»Nein.« David musterte meine Füße. Verdrossen wies er mich auf das hin, was ich längst wusste: »Du trägst nur einen Schuh.«
»Ich könnte eine Cola vertragen«, sagte ich. Die Übelkeit machte sich wieder bemerkbar.
David schwieg.
»Eine Pepsi tut’s auch«, lenkte ich ein.
David packte mich am Arm. Er führte mich durch die Eingangshalle in den mittleren Flur und in die Herrentoilette.
»Da kann ich nicht
Weitere Kostenlose Bücher