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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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früher auch ein Cop. Mit einundzwanzig ging er zur Polizei, mit achtundzwanzig wurde er Inspektor im Morddezernat. Er verfügte über einen hochempfindlichen moralischen Kompass und achtete stets auf ausgewogene Ernährung.
    Täglich lief er seine acht Kilometer. Trank grünen Tee, lange bevor es angesagt war. Nahm taufrisches Blattzeug zu sich und knackiges Gemüse von Kreuzblütlern, er studierte Schriften zur Gesundheitsvorsorge so hingebungsvoll wie russische Literaturprofessoren die Werke Dostojewskis. Bei Hochzeiten und Beerdigungen genehmigte er sich stets nur einen Whiskey mit Soda. Nie einen Tropfen mehr.
    Mit siebenundvierzig lernte Onkel Ray Sophie Lee kennen. Bis dahin hatte er nach dem Prinzip der seriellen Monogamie gelebt, doch nun war er zum ersten Mal ernsthaft verliebt. Sophie, eine Grundschullehrerin, war die einzige Zeugin bei einer vorsätzlichen Tötung im Straßenverkehr, die Ray untersuchte.
    Ein halbes Jahr später heirateten sie in einem Festsaal mit Blick auf die Bucht von San Francisco. An diesen Abend erinnere ich mich nur dunkel. Eines aber weiß ich ganz sicher: Mit meinen zwölf Jahren hatte ich an Onkel Rays Hochzeitstag mehr Alkohol intus gehabt als er.
    Allem Anschein nach führten er und Sophie eine glückliche Ehe. Doch etwa ein Jahr nach ihrer Hochzeit bekam Onkel Ray, der sein Lebtag keine einzige Zigarette geraucht hatte, Krebs. Lungenkrebs.
    Keinen Monat später wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Man operierte ihm einen Teil der Lunge heraus und traktierte ihn mit Chemotherapie. Er verlor sämtliche Haare und zwanzig Kilo Gewicht. Der Krebs bildete Metastasen. Onkel Ray ließ eine weitere Chemo über sich ergehen.
    In dieser Zeit herrschte in unserem Haus ein ohrenbetäubendes Flüstern. Ständig hörte man ein Summen aus Wörtern, kurzen Sätzen und gelegentlich auch gedämpften Diskussionen, die alle nicht für unsere Ohren bestimmt waren. Allerdings waren David und ich bereits auf Hochleistung getrimmte Lauscher. »Zu Hause trainiert es sich am besten«, hieß unser Leitspruch. Im Lauf der Jahre entdeckten wir die »Schwachstellen« im Gebäude, Ecken und Winkel mit einer besonderen Akustik, von denen aus wir sogar die entlegensten Gespräche mithören konnten. Davids und meine gemeinsame Beweiserhebung im Familienhaushalt ergab eine weitere Liste:
    • Die Chemotherapie schlägt bei Onkel Ray nicht an
    • Sophie hat ihre Besuche im Krankenhaus eingestellt
    • Mom ist schwanger
    Das mit der Schwangerschaft konnte nur aus Versehen passiert sein, schlossen David und ich beim Abgleich unserer Notizen. Nach den dreizehn Jahren Erziehungsfron, die ich ihnen bisher beschert hatte, wollten unsere Eltern bestimmt keine Risiken mehr eingehen. Andererseits ist ein neues Leben daseinzige, was über einen Todesfall hinwegtrösten kann. Und als Onkel Rays Tod unabwendbar schien, dürfte Mom beschlossen haben, das Baby auszutragen. Es wurde ein Mädchen, sie nannten es Rae, dem Mann zu Ehren, der bald sterben sollte. Doch dann starb er nicht.
    Es war allen ein Rätsel. Die Ärzte hatten erklärt, ihm blieben höchstens noch ein paar Wochen. Um das zu bestätigen, genügte ein Blick auf sein Krankenblatt und seinen Körper. Dieser Mann lag zweifelsfrei im Sterben – bis es ihm auf einmal wieder besserging. Als die dunklen Ringe unter seinen Augen blasser wurden und seine Wangen sich langsam wieder nach außen wölbten, nahmen wir noch Abschied. Als er drei Monate später wieder Appetit bekam und von den zwanzig Kilo, die er während der heimtückischen Chemotherapie verloren hatte, fünfzehn zurückgewann, nahmen wir immer noch Abschied. Als der Arzt Sophie sechs Monate später mitteilte, ihr Ehemann würde überleben, nahm schließlich sie Abschied. Sie verließ ihn ohne ein Wort der Erklärung. Und das war die Geburtsstunde des neuen Onkel Ray.
    Er begann zu trinken, und zwar richtig – mehr als einen Whiskey mit Soda bei Hochzeiten und Beerdigungen. Zum ersten Mal erlebte ich, dass Ray mich unter den Tisch soff. Er begann zu spielen, und zwar keine kleinen Pokerrunden unter Freunden, sondern Partien, bei denen der Mindesteinsatz fünfhundert Dollar betrug, Runden, die an geheimen Orten abgehalten wurden, deren Adressen verschlüsselt über den Pager gingen. Die Rennbahn wurde sein zweites Zuhause. Die Pferdchen waren seine neue Liebe. Das einzige Mal, dass ich Onkel Ray je wieder laufen sah, war, als ihm in der Halbzeitpause eines San Francisco 49er -Spiels das Knabberzeug

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