Little Miss Undercover - Ein Familienroman
zu melken.
»Das ist vertraulich«, antwortete David.
Nachdem sie diese Information verarbeitet hatte, fuhr Rae argwöhnisch fort: »Was machst du eigentlich genau?«
David suchte nach einer einfachen Antwort. »Ich ... verhandle.« Da Rae die Verwirrung immer noch im Gesicht geschrieben stand, fragte David: »Weißt du, was ›verhandeln‹ bedeutet?«
Rae starrte ihn stumm an.
»Verhandlungen führt man jeden Tag. Einige fallen gar nicht weiter auf, wenn du etwa in den Laden gehst und dem Verkäufer für einen Schokoriegel einen Dollar gibst, dann sind sich beide Parteien über diesen Tauschhandel einig. Du kannst dem Verkäufer aber jederzeit sagen: ›Für diesen Ein-Dollar-Riegel gebe ich nur fünfzig Cent‹, und er kann dazu ja oder nein sagen. Das ist verhandeln. Es geht darum, eine Lösung zu finden, die für beide Parteien annehmbar ist. Kannst du mir folgen?«
»Denk schon.«
»Willst du es selbst mal versuchen?«
»Okay.«
David überlegte, was für eine Art der Verhandlung sich zur Illustration für Rae am besten eignen würde. »Gut«, sagte er schließlich. »Ich möchte, dass du zum Friseur gehst.«
Raes letzter Friseurbesuch lag deutlich länger als ein Jahr zurück, und so hatten wir diesen Wunsch schon häufiger zur Sprache gebracht. Doch hatte bisher jeder Vorstoß die gleiche unbefriedigende Reaktion ausgelöst: Rae wollte sich die Haare selbst schneiden. Natürlich war der Anblick ihrer verschnittenen Spitzen und ihres gezackten Ponys uns allen ein Graus, doch David, dem Dandy, tat er in der Seele weh.
Unsere kleine Schwester, die es satthatte, wegen ihrer Haare pausenlos belangt zu werden, bellte: »Ich. Muss. Nicht. Zum. Friseur.«
»Ich gebe dir einen Dollar, wenn du hingehst.«
»Ich gebe dir einen Dollar, wenn du endlich damit aufhörst.«
»Fünf Dollar.«
»Nein.«
»Zehn.«
»Nein.«
»David, ich bin mir nicht so sicher, ob das eine gute Idee ist«, warf unsere Mutter ein.
Doch David musste unbedingt zu Ende führen, was er einmal begonnen hatte. »Fünfzehn Dollar.«
Diesmal zögerte Rae ganz kurz, bevor sie wieder sagte: »Nein.«
Kaum hatte David ihre Schwäche gespürt, holte er zum entscheidenden Schlag aus: »Zwanzig Dollar. Du musst dir ja nicht alles abschneiden lassen. Nur die kaputten Spitzen.«
Rae, die sich für ihr Alter bereits als gewiefte Verhandlungsführerin erwies, fragte: »Und wer zahlt für den Friseur? Das kostet fünfzehn Dollar, mindestens.«
David wandte sich Mom zu. »Du?«
»Das ist dein Deal«, sagte sie.
David drehte sich wieder zu Rae, zum Abschluss bereit.
»Zwanzig Dollar für dich. Fünfzehn für den Friseur. Einverstanden?« David streckte Rae die Hand über dem Tisch entgegen.
Sie sah mich an, in Erwartung eines zustimmenden Nickens, bevor sie David die Hand gab.
»Vergiss das Trinkgeld nicht, Rae«, sagte ich.
Sie zog die Hand weg und drehte sich zu mir. »Trinkgeld?«
»Ja«, erklärte ich. »Du musst dem Friseur auch Trinkgeld geben.«
»Oh. Was ist mit dem Trinkgeld?«, fragte sie nun David.
Er warf mir einen finsteren Blick zu und schaltete um: vom pädagogisch ambitionierten älteren Bruder auf den gnadenlosen Firmenanwalt. »Vierzig Dollar, und das ist mein letztes Wort. Wenn du dieses Angebot nicht annimmst, ist es vom Tisch.«
Wieder wandte sich Rae ratsuchend an mich. Davids Geduld war offensichtlich erschöpft. »Nimm’s an, Rae. Sonst ist es weg.«
Sie streckte die Hand aus, und die beiden besiegelten den Deal. Dann drehte sie die Handfläche nach oben, um das Geld entgegenzunehmen. Als David ihr die vierzig Dollar Bestechung in die Hand zählte, schien er zufrieden, weil er seiner kleinen Schwester gezeigt hatte, worin seine Arbeit bestand.
Rae hatte ihre Verhandlungslektion gelernt. Und wie. Bald hatte sie raus, dass sie selbst über die einfachsten Pflegeverrichtungen zu ihren Gunsten verhandeln konnte. Als sie zehn wurde, putze sie sich ein halbes Jahr lang nur dann die Zähne – das galt auch fürs Haarewaschen oder Duschen –, wenn Geld den Besitzer wechselte, und zwar unser Geld in ihren Besitz wanderte. Bei einer Familienratssitzung einigten unsere Eltern und ich uns schnell darauf, dass wir Rae endlich stoppen mussten, von heute auf morgen, selbst wenn die Folgen nicht so leicht zu ertragen wären. Bis sie einsah, dass man seinen Lebensunterhalt nicht mit dem Waschen der eigenen Haare bestreiten kann, dauerte es noch drei ganze Wochen.
Rae im Alter von zwölf Jahren
In der siebten Klasse
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