Little Miss Undercover - Ein Familienroman
meine Fragen beantworten. Ist Ihnen das klar, Isabel?«
»Ja.«
»Wir müssen über Rae sprechen«, sagt Stone, fast im Flüsterton.
Ja, dafür wird es allmählich Zeit. Ich habe es lang genug vor mir hergeschoben.
R AE S PELLMAN
Schon bald nach ihrer Geburt, die sechs Wochen zu früh erfolgte, wurde Rae mit einem Lebendgewicht von exakt vier Pfund vom Krankenhaus nach Hause gebracht. Anders als viele Frühchen, die ganz normal heranwachsen, sollte Rae für ihr Alter stets klein bleiben. Ich war vierzehn, als sie zur Welt kam, und ignorierte geflissentlich die Tatsache, dass nun ein Säugling mit mir unter einem Dach lebte. Im ersten Jahr sagte ich immer »das da«, wenn ich sie meinte, als handle es sich um einen jüngst erworbenen Gegenstand, eine Lampe vielleicht oder einen Wecker. Ihre Anwesenheit würdigte ich höchstens mit Sätzen wie »Bringst du das da bitte raus? Ich muss lernen« oder »Kann man das da nicht leiser drehen?«. Keiner lachte über meinen Versuch der Verdinglichung, selbst ich nicht. Zum Lachen war mir gar nicht zumute. Zu groß war meine Angst, dass sich dieses Kind wie David als vollkommenes Wesen entpuppen könnte. Irgendwann jedoch stellte ich fest, dass Rae mit David nicht zu vergleichen ist – einzigartig ist sie allerdings.
Rae im Alter von vier Jahren
Ich hatte ihr erzählt, sie sei ein Versehen. Beim Abendessen, nachdem sie mich zwanzig Minuten lang mit Fragen nach meinem Tagesverlauf gelöchert hatte. Ich war müde, sicher auch verkatert und auf keinen Fall in der Stimmung, von einer Vierjährigen vernommen zu werden.
»Rae, ist dir eigentlich klar, dass du ein Versehen bist?«
Rae lachte. »Ja?« Damals lachte sie über alles, was sie nicht verstand.
Mom bedachte mich wie üblich mit ihrem vernichtenden Blick und nahm dann Schadensbegrenzung vor. Sie erklärte, dass manche Kinder geplant würden und andere nicht etc. pp.Offenbar fand es Rae aber viel befremdlicher, dass man manche Kinder plante, und schenkte dem Gefasel unserer Mutter bald keine Beachtung mehr.
Rae im Alter von sechs Jahren
Ganze drei Tage bettelte sie darum, an einem Observationsjob teilnehmen zu dürfen. Weder ließ sie locker noch ließ sie sich vertrösten. Wenn sie nicht gerade schlief, bettelte sie geradezu auf Knien, händeringend und ein langgezogenes Biiiiiiiitte greinend. Bis meine Eltern schließlich weich wurden.
Da war sie sechs. Ich wiederhole: sechs. Als meine Eltern mir eröffneten, Rae würde uns am nächsten Tag bei der Observation von Peter Youngstrom begleiten, entfuhr mir nur ein: Seid ihr komplett wahnsinnig geworden? Auf Mom traf es wohl zu; sie brüllte: »Halt du das mal aus! Halt du diese Bettelei aus, den ganzen Tag! Lieber lasse ich mir in Zeitlupe einen Zehennagel ziehen, als das noch einmal durchzustehen.« Dad pflichtete ihr bei: »Zwei Zehennägel.«
Noch am gleichen Abend brachte ich Rae bei, wie man ein Sprechfunkgerät benutzt. Unser Vater hatte die Ausrüstung seit Jahren nicht erneuert; die Funkgeräte waren zwar durchaus funktionstüchtig, aber so groß wie Raes ganzer Arm. Ich stopfte die zweieinhalb Kilo schwere Elektronik in ihren Snoopy-Rucksack, dazu Fruchtschnitten, Käseecken und Kräcker sowie ein paar Ausgaben des Highlights -Magazins. Die Mikrophonvorrichtung zog ich aus dem Rucksack hervor und befestigte sie mit einer Klammer an Raes Mantelkragen. Ich zeigte ihr, wie sie durch den offenen Reißverschluss in den Rucksack greifen sollte, um die Lautstärke zu regeln. Wenn sie sprechen wollte, musste sie nur noch den Knopf am Mikrophon drücken.
Die Beobachtung nahmen wir gegen sechs Uhr morgens vor dem Haus der Zielperson auf. Rae war bereits um fünf aufgestanden, hatte sich die Zähne geputzt, das Gesicht gewaschen und sich angezogen. Danach hatte sie von Viertel nachfünf bis Viertel vor sechs neben der Haustür ausgeharrt, bis wir alle so weit waren. Dad meinte, ich solle mir daran ruhig ein Beispiel nehmen. Während wir drei Häuser vom Wohnsitz der Zielperson entfernt im Observations-Bus warteten, gingen Rae und ich noch einmal alle Funkprozeduren durch. Ich erinnerte sie daran, dass sie mit einer unvorstellbar schlimmen Strafe rechnen musste, sollte sie ohne Erlaubnis von Mom oder Dad eine Straße überqueren. Im Anschluss wiederholte unsere Mutter die Straßenüberquerungsvorschrift.
An ihrem ersten Einsatztag befolgte Rae alle Anweisungen punktgenau. Meist ging ich vor, um ihr in der Praxis zu zeigen, worauf man beim Observieren achten muss.
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