Little Miss Undercover - Ein Familienroman
nach zu schließen, wirft sie sich mit dem ganzen Körper dagegen. »Nein. Lasst Isabel in Ruhe! Macht die Tür auf.«
Mit einem Stöhnen öffnet Dad. Rae verteidigt mich; ich tue es aus Prinzip nicht. Irgendwann sieht sich unser Vater gezwungen, seine Anklage auf folgende Worte zu reduzieren: »Beim nächsten Mal überlässt du es bitte uns, die Sache in Ordnung zu bringen, Izzy.«
Es gibt praktisch nichts, wovor unsere Mutter zurückschrecken würde, wenn es um den Schutz ihrer Kinder geht. Selbst wenn es moralisch nicht einwandfrei ist. Und so übernimmt Mom die Sache mit der Anzeige, vor allem, weil sie die Achillesferse eines jeden Gegners mit Röntgenblick erfasst. Wenn ich von ihr auch nur eine einzige Eigenschaft in Reinkultur geerbt habe, dann diese.
Als Olivia abklärt, ob gegen Mr. Wheeler Zivilklagen laufen, entdeckt sie prompt, dass er mehrfach wegen sexueller Belästigung belangt wurde. Die Neugier meiner Mutter ist geweckt; eine Woche lang beschattet sie Wheeler außer der Reihe. Sie ertappt ihn bei einer Geliebten, schießt ein paar Fotos und nimmt ihn dann in einem Café in die Mangel, als er unterwegs zur Arbeit ist. Mom fordert ihn auf, die Anzeige zurückzuziehen.Wheeler weigert sich. Mom zeigt ihm die Fotos und wiederholt ihre Aufforderung. Sie fügt hinzu, er solle Raes Mountainbike am besten bis Ende der Woche ersetzen. Wheeler beschimpft sie zwar als Schlampe, doch er zieht die Anzeige noch am gleichen Nachmittag zurück. Und am Freitag wird ein neues Rad geliefert.
Rae sollte nie vergessen, was ich an jenem Tag für sie getan hatte. Allerdings muss ich an dieser Stelle erklären, dass ihre unverbrüchliche Dankbarkeit sich ganz anders äußert, als man vielleicht erwarten würde. Zwar fällt es ihr leicht, andere ihrer Liebe zu versichern, aber das tut sie ohne einen Tropfen triefenden Postkartenkitsches. Es klingt mehr nach einer Tatsache, die sie anderen zu deren Erbauung mitteilt. Es gab Phasen, in denen Rae alles daranzusetzen schien, unsere Eltern und manchmal sogar auch mich zufriedenzustellen. Doch das führte meistens dazu, dass wir uns in trügerischer Sicherheit wähnten. Sie wollte uns nur dann zufriedenstellen, wenn es sich mit ihren eigenen Plänen und Zielen vereinbaren ließ. Und trotzdem kam es vor, dass sie Anweisungen so blindlings und buchstabengetreu befolgte wie ein dressierter Hund.
Wie man sich gegen einen Entführungsversuch zur Wehr setzt Als Rae dreizehn wurde, berichteten lokale Sender und Zeitungen pausenlos von Kindesentführungen, fast so regelmäßig wie vom Wetter. Rein statistisch gesehen hatte die Zahl der Fälle im Vergleich zu den Vorjahren zwar abgenommen; die kalkulierte Medienhysterie löste bei Eltern schulpflichtiger Kinder aber einen kollektiven Verfolgungswahn aus. Selbst Mom und Dad ließen sich davon anstecken.
Und so schrieben meine Eltern mit, als Charles Manning, ein pensionierter Special Agent, in den Abendnachrichten eine Reihe von Präventionsmaßnahmen vorstellte, die Kinderräuber abwehren sollten. Danach ergänzten die beiden den Katalog bereits verhängter Maßnahmen um die einzige, die ihnennoch nicht in den Sinn gekommen war: Bloß keine Routine! Rae wurde angewiesen, gegen ihre Gewohnheiten zu handeln, ihren Tagesablauf immer wieder neu zu gestalten, als potentielles Ziel möglichst beweglich zu bleiben.
Um die Abweichungen zu würdigen, sollte man Raes übliches Morgenritual kennen: Um acht Uhr früh purzelt sie aus dem Bett, putzt sich die Zähne, schnappt sich auf dem Weg zur Haustür ein, zwei Pop Tarts und radelt zur Schule, so dass sie Schlag acht Uhr dreißig ins Klassenzimmer schlüpft. Am Wochenende schläft sie bis zehn und braucht dann eine Stunde, um sich ein gewaltiges, stark zuckerhaltiges Frühstück zuzubereiten.
Die Anweisung, alles Vorhersehbare zu vermeiden, erhielt Rae an einem Sonntagabend. Schon am nächsten Morgen hatte sie einen völlig neuen Wochenplan ausgetüftelt.
M ONTAG
Rae steht um sechs auf. Sie joggt zwanzig Minuten und geht unter die Dusche. Sie hasst Jogging – genauso wie Duschen. Danach trinkt sie ein Glas Multivitaminsaft und isst eine Schale Cornflakes. Zur Schule geht sie zu Fuß. Fünfunddreißig Minuten vor Unterrichtsbeginn ist sie da.
D IENSTAG
Rae hat den Wecker auf sieben Uhr dreißig gestellt. Als er klingelt, drückt sie für die nächste Dreiviertelstunde immer wieder die Schlummertaste. Um acht Uhr fünfzehn kriecht sie aus dem Bett, schleicht in die Küche hinunter und
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