Little Miss Undercover - Ein Familienroman
machte sich Rae irgendwann im Winter einen Feind. Er hieß Brandon Wheeler. Die Anfänge dieser Feindschaft ließen sich nie vollständig ergründen – Rae schützt ihre Privatsphäre, genau wie ich. Ich weiß nur, dass Brandon erst im Herbst desselben Jahres auf ihre Schule kam. Binnen weniger Wochen wurde er einer der beliebtesten Jungs in ihrer Klasse. Er glänzte im Sportunterricht, brachte aber auch in allen anderen Fächern fundiertes Wissen mit und war bemerkenswert pickellos.
Rae hatte nichts gegen Brandon, bis er eines Tages im Unterricht Jeremy Shoemans Stottern nachäffte, als Jeremy eine Passage aus Huckleberry Finn vorlas. Die Imitation war so gelungen, dass die Klasse in Gelächter ausbrach und Brandon sich darin bestärkt fühlte, sie als neue Nummer in sein Repertoire aufzunehmen. Zuvor hatte sich Rae nie an Brandons Parodien gestört, zu denen ein lispelnder Rotschopf, eine hinkendeHornbrillenschlange und ein lüstern linsender Lehrer gehörten. Und mit Shoeman war sie nicht einmal befreundet. Doch aus irgendeinem Grund ging Brandon ihr mit dieser Einlage auf die Nerven, und Rae war felsenfest entschlossen, dem ein Ende zu bereiten.
Ihr erster Angriff bestand aus einem anonymen, maschinengetippten Schreiben: Lass Jeremy in Ruhe, sonst wirst du es bereuen. Aber echt. Als sie am nächsten Tag spitzbekam, wie Brandon Jeremy während der Mittagspause in die Ecke drängte – im Glauben, das Schreiben stamme direkt von seinem Opfer –, rückte Rae mit der Wahrheit heraus. Daraufhin setzte Brandon das Gerücht in die Welt, Rae und Jeremy Shoeman gingen miteinander. Zwar regte sich meine Schwester maßlos darüber auf, wahrte aber die Fassung, solange sie an ihrer Rache feilte. Ich weiß nicht, wie sie herausbekommen hat, dass Brandon nicht zwölf, sondern vierzehn Jahre alt war und die siebte Klasse schon zum zweiten Mal absolvierte. Bei der nächsten Lobeshymne, die ein Lehrer vor versammelter Klasse auf Brandon sang, stellte Rae jedoch klar, dass Übung und nicht etwa Begabung in diesem Fall den Meister gemacht hatte.
Danach entspann sich ein eher harmloses Wortgefecht zwischen meiner Schwester und dem vierzehnjährigen Siebtklässler. Brandon musste bald einsehen, dass das Wort Raes Lieblingswaffe war, und griff zur einzigen Gegenwehr, die ihm zur Verfügung stand. Auch wenn ich kein anderes Mädchen mit einer derartigen Willenskraft kenne, muss man wissen, dass Rae nach meiner Mutter kommt; mit zwölf Jahren war sie nicht mal 1,50 Meter groß und wog knapp 45 Kilo. Sie ist eine schnelle Läuferin, aber sie kam nicht immer ungeschoren davon. Als ich einmal eine verräterische Rötung an ihrem Handgelenk sah, bot ich ihr an, mich der Sache anzunehmen. Rae lehnte das Angebot ab. Als sie dann mit einem blauen Auge vom »Völkerballspielen« nach Hause kam, erneuerte ich das Angebot. Rae beharrte darauf, es sei alles in bester Ordnung. Ich hatte aber das Gefühl, dass die Einschüchterungsversuche,denen sie ständig ausgesetzt war, allmählich an ihr zehrten.
Als ich einmal Petra abgeholt hatte und wir ins Kino fuhren, klingelte mein Handy. Petra ging ran.
»Hallo? Nein, hier ist Petra. Izzy sitzt neben mir. Aha. Wie war das mit deinem Fahrrad? Okay. Wir sind gleich da. Klar.« Petra drückte die Austaste.
»Deine Schwester wartet vor der Schule auf uns.«
»Was ist mit ihrem Rad?«
»Sie meinte, es sei kaputt.«
Binnen fünf Minuten waren wir vor Ort. Rae saß draußen auf dem Rasen, das Fahrrad lag in seine Bestandteile zerlegt vor ihr – das fünfhundert Dollar teure Mountainbike, das David ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Weiter weg stand eine Gruppe von Jungs, die sich über sie lustig machten. Rae forderte mich auf, den Kofferraum zu öffnen. Petra half ihr, das Wrack in seinen Einzelteilen zu bergen und zu verstauen. Danach sprang Rae auf den Rücksitz, holte eins ihrer Schulbücher hervor und tat so, als läse sie. Obwohl ich sah, dass ihre Augen feucht wurden, konnte ich es nicht so recht glauben. Als Rae das letzte Mal in meinem Beisein geweint hatte, war sie acht Jahre alt gewesen und hatte sich den Arm an einem Stacheldrahtzaun aufgerissen. Vor lauter Blut hatten wir damals die Wunde gar nicht erkennen können.
»Rae, bitte. Lass mich das regeln«, sagte ich. Ich brannte darauf, ein Zeichen zu setzen. Ein paar Minuten verstrichen, in denen wir stumm dasaßen; als Rae sich irgendwann nach den Jungs umschaute und Brandon ihr fröhlich zuwinkte, war sie zu allem bereit.
»Na gut«,
Weitere Kostenlose Bücher