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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Lutz
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Suche betrauen. Solange die Suche andauert, besteht nämlich noch ein Fünkchen Hoffnung.
    So grausam der Fund einer Leiche ist, können die Betroffenen dann immerhin um den Vermissten trauern und in der Gewissheit seines Verbleibs weiterleben. Und dank jüngster Fortschritte bringt die Gerichtsmedizin die Toten zum Sprechen, fast immer geben sie die Ursache preis – ob nun Mord, Unfall oder menschliches Versagen. Während das Fehlen einer Leiche zahllose Hypothesen zulässt. Ohne wenigstens eine handfeste Spur besteht keine Aussicht auf Erfolg. Ein Mensch kann sich nicht buchstäblich vor den Augen eines anderen in Luft auflösen, aber die Vermisstenfotos auf Milchtüten erinnern tagtäglich daran, wie oft das vorkommt.
    Noch am selben Abend rief ich Abigail Snow an, Andrews Mutter, und vereinbarte mit ihr ein Treffen für den nächsten Tag. Ich wusste, dass ich damit falsche Hoffnungen weckte, aber schließlich hatte ich keine andere Wahl. Das redete ich mir jedenfalls ein.
    Seit der letzten Besprechung mit meinen Eltern hatte ich nur diese zwei Dinge im Sinn: 1) Ich wollte Daniel zurück und 2) den Snow-Fall zu Ende bringen.
    Ich ließ Daniel nach der Verfolgungsjagd eine Woche in Ruhe, bevor ich wieder an sein Fenster klopfte. Es war zehn Uhr abends, und schon beim ersten Klopfen wurde mir klar, dass ich zu meiner Verteidigung kein einziges Wort vorbringen konnte. Trotzdem klopfte ich ein zweites Mal.
    Daniel öffnete das Fenster mit einem »Nein!«.
    »Vielleicht gehört das in Guatemala zu den gängigen Begrüßungsformeln, aber hier sagt man eher Hallo oder Schön, dich zu sehen oder meinetwegen auch Hey «, antwortete ich.
    »Hältst du diesen Ton jetzt wirklich für angebracht?«
    »Nein, aber für Entschuldigungen bist du ja taub.«
    »Isabel, ich habe auch eine Tür.«
    »Sogar drei.«
    »Und was folgerst du daraus?«
    »Drei Türen oder ein Fenster. Kannst du dir ausrechnen.«
    »Deine Rechenspielchen können mir gestohlen bleiben. Ich möchte, dass du in Zukunft durch die Tür kommst.«
    »Dann haben wir also eine Zukunft?«
    »So wörtlich war das nicht gemeint.«
    »Darf ich wenigstens auf eine Minute reinkommen? Ich benutze auch gern die Tür.«
    »Ich will dich nicht sehen, Isabel.«
    »Aber ich muss dir noch so vieles erklären.«
    »Was habe ich gerade gesagt?«
    »›Ich will dich nicht sehen, Isabel.‹ Habe ich nicht gut aufgepasst?«
    »Was bedeutet das?«
    »Das, was du gerade gesagt hast?«
    »Genau.«
    »Das bedeutet, du willst mich nicht sehen.«
    »Eben.«
    »Darf ich fragen, warum?«
    »Ist diese Frage ernst gemeint?«
    »Ich weiß nicht, wie du sonst mit rhetorischen Fragen umgehst.«
    »Ich bin richtig wütend, Isabel.«
    »Das verstehe ich. Wenn ich wüsste, was dich am meisten wütend macht, könnte ich vielleicht etwas dagegen unternehmen.«
    »Du hast mich nach Strich und Faden belogen.«
    »Nicht immer.«
    »Gute Nacht, Isabel.« Daniel schloss das Fenster.

D AS L ÖSEGELD
    Am nächsten Morgen wachte meine Schwester um Schlag halb sieben auf. Zufällig fiel der erste Tag ihrer Winterferien mit dem ersten Tag nach Ablauf ihres dreimonatigen Hausarrests zusammen (wobei dieser Arrest Rae weder von Observationen noch von Erpressungsversuchen hatte abhalten können). Zwei Wochen zuvor hatte Onkel Ray die Lösegeldforderung erhalten. Diesen Zeitraum hatte Rae für die Planung ihres Angriffs genutzt.
    Nachdem sie sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, in ihre Jeans geschlüpft war, ein weißes T-Shirt mit langen Ärmeln und ein rotes T-Shirt mit kurzen Ärmeln übergestreift hatte und sich genau fünf Mal mit dem Kamm durch die Haare gefahren war, nahm sie den Hörer ab, drapierte ein Geschirrtuch über die Sprechmuschel und tätigte den Anruf.
    Onkel Ray, als Langschläfer so berüchtigt, dass es gelegentlich sein zweiter Name wurde, nahm beim vierten Klingeln ab: »Hallo?«
    »Pass auf«, sagte die ungewohnt tiefe, gedämpfte Stimme am anderen Ende. »Wenn du meine Anweisungen nicht befolgst, ist dein Hemd futsch. Verstanden?«
    Die bloße Erwähnung seines Glückshemds genügte, um Onkel Ray endgültig aus dem Schlaf zu reißen. Nun hatte er schon zwei Wochen ohne dieses Hemd auskommen müssen, was keinem von uns entgangen war. Onkel Ray stieß sich den Zeh – weil sein Hemd weg war. Onkel Ray bekam ein Knöllchen, warf ein Glas Wasser um, nahm zwei Pfund zu, wurde bei seinem letzten Pokerspiel von den Cops überrascht – und das alles nur, weil man sein

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