Little Miss Undercover - Ein Familienroman
bestimmt schliefen. Natürlich hätte ich auch einfach die Eingangstür benutzen können. Doch hinter solchen Türen lauern stets diese vermeintlich harmlosen Floskeln, Da bist du ja! und Wo hast du denn so lange gesteckt?. Türen waren mir noch nie geheuer.
Meine Rückbank war gemütlicher als erwartet. Jedenfalls wachte ich erst am nächsten Morgen auf, als Rae an mein Fenster klopfte und mich bat, sie zur Schule zu fahren. Da ich vor Erschöpfung noch keinen klaren Gedanken fassen konnte, willigte ich ein. Sie nutzte die kurze Fahrt, um mich mit scheinbar beliebigen Fragen zu bombardieren, die den Sinn und Zweck ihrer Inquisition verschleiern sollten.
»Wie läuft’s im Fall Snow?«
»Prima.«
»Mehr willst du dazu nicht sagen?«
»Nein.«
»Hast du in letzter Zeit den Dentisten getroffen?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Gibst du mir zehn Dollar?«
»Nein.«
»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«
»Wen?«
»Den Dentisten.«
»Am Abend, an dem du Onkel Ray die Lösegeldforderung überbracht hast.«
»So lange hast du ihn nicht gesehen?«
»Ja.«
»Warum gibst du mir keine zehn Dollar?«
»Weil du reicher bist als ich.«
»Hat er dich angerufen?«
»Wer?«
»Der Dentist.«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Rae, was sollen diese Fragen?«
»Hast du heut Morgen überhaupt gefrühstückt?« Ein schwacher Ablenkungsversuch meiner Schwester.
»Wie denn, wenn ich im Auto eingeschlafen bin?«
»Hast du im Auto nichts Essbares?«
»Nein.«
»Solltest du aber. Für Notfälle.«
Ich hielt vor Raes Schule. Bevor sie die Tür öffnete, packte ich sie am Ärmel.
»Was hast du getan?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Hast du ihn etwa aufgesucht?«
»Deinetwegen komm ich noch zu spät.«
»Sei ehrlich.«
»Ehrlich, ich komm zu spät. Und drüben steht schon der Schulleiter, er lässt dich nicht aus den Augen. Erinnerst du dich an das letzte Mal? Da hast du mich doch auch so grob angefasst. Lass mich lieber los, sonst hast du bald den Kinderschutzbund am Hals.«
Ich lockerte den Griff, stellte Blickkontakt mit dem Schulleiter her, lächelte mild, strich Rae über den Kopf und drohte ihr Tod und Teufel an. Sie überging das einfach und fragte dreist, ob ich sie nachher abholen würde. Ich sagte nein.
Dann fuhr ich gleich zu Daniels Praxis, um den nächsten Rückeroberungsversuch zu starten und mehr über die Umtriebe meiner Schwester in Erfahrung zu bringen. Als ich eintraf, behandelte Daniel gerade einen Patienten. Mrs. Sanchez schlug mir vor, einen Termin zu vereinbaren, um sich dann in zuckersüßem Ton nach dem Namen zu erkundigen, den ich heute verwenden wollte. Ich lächelte verbindlich, gab meinen richtigen Namen an und erklärte mich bereit zu warten.
Nach einer Stunde bat sie mich, statt auf der Wartezimmer-Couch doch besser auf dem Stuhl in einem der leeren Behandlungszimmer zu schlafen. Auch dazu war ich bereit und holte auf diese Weise zwei weitere Stunden bitter benötigten Schlaf nach. Als Daniel begriff, dass er mich nicht mehr loswerden würde, kam er mich wecken.
»Mach den Mund auf«, sagte er und streifte sich Latexhandschuhe über.
»Deswegen bin ich nicht hier.«
»Wann warst du das letzte Mal beim Zahnarzt?«
»In Chicago.«
Er schien nicht überrascht. »Das ist sicher eine ganze Weile her.«
»So lang auch wieder nicht.«
»Auf Zahnhygiene legt deine Familie offenbar keinen Wert.«
»War sie bei dir?«
»Wer?«
»Meine Schwester.«
»Die ärztliche Schweigepflicht gilt auch für Zahnärzte.«
»Aber nicht bei Minderjährigen.«
»Bist du erziehungsberechtigt?«
»Du sagst es entweder mir oder meiner Mutter. Du hast die Wahl.«
»Sie hat drei Löcher.«
»Löcher spielen keine Rolle, wenn man erst mal tot ist.«
Daniel gab zu, dass er mich ohne Raes Zutun niemals angerufen hätte. Dann bat er mich mit Nachdruck, sie in Ruhe zu lassen, dabei ließ er sich sogar zu der Bemerkung hinreißen, meine Schwester sei seltsam, aber faszinierend. Ich musste ihm versprechen, Rae wegen dieser Aktion kein Härchen zu krümmen.
Während Daniel mir eine Zahnreinigung verpasste, gelang es mir hin und wieder, ein Wort einzuschieben, allerdings waren die Zeitfenster sehr schmal, in denen ich nicht gerade ausspülen musste oder Daniel mir wieder einmal seine Finger in den Mund stopfte.
»Ausspülen.«
Ich spülte und spuckte und fragte: »Wirst du mir irgendwann verzeihen?«
Er fuhr mit dem Reinigen fort und erwiderte: »Das ist nicht ganz auszuschließen. Du benutzt
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