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gefahren wären, steckten wir jetzt auf der Höhe der Staatlichen Fernsehanstalt inmitten der Bauarbeiten für die Olympiade fest. Inzwischen beginnt ein weiterer Zweifel an mir zu nagen: Kennt Fanis den Weg über Dionyssos oder verirren wir uns möglicherweise in den Bergen und Schluchten, und Vakirtsis bringt sich um, während wir verzweifelt nach dem Weg suchen? Als ich merke, daß sich Fanis der Fahrtroute ganz sicher ist, beruhige ich mich etwas.
Das Handy läutet, als wir den Abstieg vom Bergsattel des Dionyssos beginnen.
»Keiner weiß Vakirtsis’ genaue Anschrift«, meint Sotiropoulos. »Sie müssen sich zu seinem Haus durchfragen, jeder kennt es.«
»In Ordnung.«
»Ich fahre in einer Viertelstunde los.« Er legt eine kleine Pause ein, und dann fragt er mich mit gepreßter Stimme: »Haben Sie mit jemand anderem gesprochen?«
»Mit wem denn?«
»Mit einem anderen Journalisten. Haben Sie mit jemand gesprochen?«
»Sehe ich so aus, Sotiropoulos, als hätte ich Zeit, mit Ihrer ganzen Gilde zu schwatzen?« schreie ich außer mir und drücke auf den Knopf, den mir Fanis gezeigt hat, um das Gespräch zu beenden.
Als wir auf die Straße gelangen, die geradewegs nach Nea Makri führt, ist die Nacht hereingebrochen. Bis zur Küstenstraße war der Verkehr kaum spürbar, aber in Soumberi stoßen wir auf eine endlose Reihe von Wagen, die im Schrittempo dahinkriechen.
»Das war’s«, sage ich zu Fanis. »So brauchen wir bis morgen früh.«
»Sei froh, daß wir es bis hierher geschafft haben. Stell dir vor, wir wären über Rafina gefahren.«
Richtig, aber das ist auch kein Trost. Während wir darum kämpfen, eine Schlange von mehr als hundert Wagen zu überholen, scharen sich die Gäste vielleicht schon um Vakirtsis’ Leiche. Ich versuche mich an dem Gedanken aufzurichten, daß unter so vielen Gästen sich doch einer finden wird, der ihn von seiner Tat abhält. Doch aus Erfahrung weiß ich, daß die Leute in solchen Fällen vollkommen gelähmt auf das unvorhergesehene Ereignis reagieren und, statt das Übel abzuwenden, starr vor Schreck zusehen.
Plötzlich haut Fanis mit den Handflächen auf das Lenkrad, und es bricht aus ihm heraus: »Im Sommer fahren sie Fisch essen, im Winter Kotelett essen und zwischendurch machen sie Ausflüge. Wo soll man da eine freie Straße finden!«
Ich vergesse einen Augenblick lang den potentiellen Selbstmörder und versuche, den potentiellen Verkehrssünder zu beruhigen. Doch vergebliche Liebesmüh: Er reißt das Steuer nach links herum, fährt auf die Gegenfahrbahn, die leer ist, weil ja keiner nach Athen zum Fischessen fährt, tritt das Gaspedal durch und beginnt, wie besessen zu rasen.
»Hör auf, wir brechen uns den Hals!« rufe ich, aber er hört nicht auf mich.
Ich sehe in der Ferne, wie ein Überlandbus genau auf uns zurast. Fanis reißt das Steuer nach rechts und hupt wie wild, damit die Autos im Stau ihm ein Schlupfloch öffnen. Es gelingt ihm, in dem Moment einzuscheren, als der Bus haarscharf an uns vorbeidonnert.
»Schämst du dich nicht, gewissenloser Mensch!« schreit ein Sechzigjähriger. »Und so was ist auch noch Arzt!«
»Ein Orthopäde auf Kundenfang!« kommentiert eine rothaarige Vierzigjährige am Steuer eines Honda.
»Deshalb beklagen wir jedes Wochenende mehr Opfer als die Palästinenser!« ergänzt der Sechzigjährige.
»Er hat recht«, sage ich. »Glaubst du denn, wir können nur, wenn wir Kopf und Kragen riskieren, den Selbstmord verhindern?«
»Ich bin Arzt!« schreit er. »Weißt du, was es heißt, wenn jemand stirbt und du nicht rechtzeitig da bist?«
»Nein. Ich bin Polizist und treffe immer erst post mortem ein.«
Er hat sich derartig in seinen Gedanken verrannt, daß er meine Worte gar nicht wahrnimmt. Zum ersten Mal sehe ich den sanften und stets verbindlichen Fanis außer sich. Er setzt dieselbe Guerillataktik noch einige Kilometer lang fort: Er fährt auf die Gegenfahrbahn, überholt drei bis vier Wagen und drängt sich, sobald ein Hindernis auftaucht, auf die rechte Fahrspur.
Obwohl sich die anderen Fahrer an die Stirn schlagen, gelingt es uns dadurch, schneller aus Nea Makri fortzukommen und die Küstenstraße nach Marathonas einzuschlagen, auf der normales Verkehrsaufkommen herrscht. Als wir links in Richtung Vranas einbiegen, ist es kurz vor zehn. Die Straße liegt frei vor uns, und Fanis jagt den Fiat auf hundert hoch.
»Mein Fehler«, meint er. »Wir hätten über Stamata fahren sollen.«
»Und wie lange hätten wir über
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