Live!
Zuerst die Biographie, und jetzt das! Er hat Kontakt mit mir aufgenommen und schickt mir Botschaften. Deshalb wende ich mich an dich. Vielleicht kann ich mit deiner Hilfe verstehen, was er mir sagen will.«
Er sieht sich nochmals das T-Shirt an, stülpt es sogar um, scheint aber nicht klug daraus zu werden. »Das ist eins von den T-Shirts, die an jeder Ecke zu kaufen sind und Che verunglimpfen«, sagt er. »Was soll dir das wohl sagen?«
»Es gibt noch ein kleines Präsent.« Ich ziehe die CD hervor. »Vielleicht ergibt beides zusammen eine klarere Aussage.«
Er nimmt die CD und geht zur Stereoanlage am Ende seines riesigen Bücherregals. Eine große Anspannung überkommt mich. Was erwarte ich zu hören? Vielleicht eine mündliche Nachricht von Logaras, in der er mir erklärt, warum er all das tut, warum er die drei in den Selbstmord getrieben hat. Wenn nicht gar eine neuerliche Provokation spielerischer oder ironischer Art. Statt dessen ertönt ein lateinamerikanisches Lied mit Gitarrenbegleitung, das nicht anders klingt als Dutzende lateinamerikanischer Lieder. Es gefällt mir, lüftet aber das Geheimnis nicht. Ein T-Shirt mit Che Guevara und ein lateinamerikanisches Lied. Was kann das bedeuten? Und was könnten Favieros, Stefanakos und Vakirtsis mit Lateinamerika zu tun gehabt haben? Bislang hat nichts auf eine auch nur entfernte Verbindung mit Lateinamerika hingedeutet. Folglich will mir Logaras etwas anderes sagen oder meine Aufmerksamkeit anderswohin lenken. Aber worauf?
Ich hätte noch länger darüber gebrütet, wenn mich Sissis’ Bariton nicht aufgeschreckt hätte. Da sitzt er, ein alter Mann mit struppigem Bart, zerknitterten Kleidern und zur Hälfte schon zahnlosem Mund, hält eine Zigarette zwischen seinen gelblichen Fingern und singt ein lateinamerikanisches Lied, während Tränen aus seinen Augen kullern. Für meinen Geschmack klingt seine Aussprache ein wenig falsch, aber das möchte ich nicht beschwören. Denn weder verstehe ich, worum es in dem Lied geht, noch, warum Sissis weint. Ich verstehe rein gar nichts. Das einzige, was ich mitbekomme, ist der immer wiederkehrende Refrain »Commandante Che Guevara«. Das ist aber auch das einzige, was das Lied mit dem T-Shirt verbindet.
Ich warte das Ende der CD ab, in der Hoffnung, daß irgendeine Erklärung oder irgendeine Botschaft folgt. Doch es folgt nur Stille. Auf der CD befindet sich nichts weiter. Auch Sissis ist verstummt. Noch immer hat er Tränen in den Augen. Ich stehe dazu: Ich habe kein Talent dafür, mein Mitgefühl auszudrücken. Daher wähle ich lieber die Flucht nach vorn und komme gleich zur Sache.
»Kannst du was damit anfangen?« frage ich.
Er erhebt sich wortlos und geht aus dem Zimmer. Ich ahne, daß ihm wohl irgendein Licht aufgegangen ist, aber ich muß mich gedulden und seiner Gangart folgen. Kurz darauf taucht er mit einem vollgekritzelten Kärtchen in der Hand wieder auf. Da ich solche Kärtchen bei ihm schon gesehen habe, weiß ich, daß sie aus seinem Geheimarchiv stammen, und fasse mich weiterhin in Geduld.
»Favieros, Stefanakos und Vakirtsis bekannten sich zum linken politischen Spektrum, ohne einer Partei anzugehören.« Er hält inne und dreht das Kärtchen um. »Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie waren zwar keine Parteimitglieder, aber sie waren organisiert.«
»Wo?«
»In einer Gruppierung namens Unabhängige Widerstandsbewegung Che . Beim Anblick des T-Shirts habe ich nicht gleich daran gedacht. Aber das Lied hat mich darauf gebracht.« Er seufzt auf und meint, mehr zu sich selbst als zu mir: »Lieder machen einem vieles erst bewußt. Damals wie heute.«
Ich verstehe, worauf er hinauswill, aber ich mache lieber keine Bemerkung dazu. Ich überlasse mich nach wie vor seiner Gangart, obwohl ich auf glühenden Kohlen sitze.
»Stell dir jetzt keine große Gruppierung vor. Die waren höchstens zu zehnt. Aber sie glaubten an den bewaffneten Widerstand. Nicht, daß sie andere Formen des Kampfes abgelehnt hätten: Versammlungen, Besetzungen, Protestmärsche. Sie glaubten jedoch, daß Formen von bewaffnetem Widerstand unterstützt werden müßten, um effektiver zu sein. Ich weiß nicht, ob sie je Bomben gelegt oder, wie viele Gruppen damals, es nur geplant haben. Irgendwann hat dann die Militärpolizei verkündet, sie hätte die Bombenlegerbande Che ausgehoben. Das heißt natürlich nicht, daß sie wirklich Bomben gelegt haben. Damals wurde man aufgrund eines puren Verdachts eingesperrt und so lange gefoltert,
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