Live!
sich zu mir gesellt und schaut mich fragend an.
»Nichts. Er hat keine Telefonnummer hinterlassen, nur die Adresse. Das verlassene Haus.«
»Was machst du jetzt?«
»Ich weiß nicht. Darüber muß ich erst nachdenken.«
»Jetzt hast du auch schon deine Tochter infiziert«, mischt sich Adriani ein, die immer zur Unzeit ihre Ansichten darlegt. »Komm, Katerina, sag mir lieber, was ich für Fanis’ Eltern kochen soll.«
Katerina zwinkert mir zu und begleitet ihre Mutter ohne Widerworte hinaus. Offenbar will sie mich in Ruhe nachdenken lassen, doch ich bin in der Zwischenzeit zu dem Schluß gelangt, daß ich am besten ins Büro fahre.
Vielleicht haben Vlassopoulos und Dermitsakis mittlerweile etwas herausgekriegt. Ich betrachte noch einmal das T-Shirt und die CD , kann die Anspielung aber nach wie vor nicht verstehen. Was halte ich auch schon in Händen? Ein T-Shirt mit Ches Gesicht, wie es auf jedem Wühltisch liegt und in jedem Laden zu kaufen ist, der Soldatenstiefel und geklonte Armeeuniformen feilbietet. Was die CD betrifft, so kann ich sie nicht hören, weil ich keinen CD -Spieler besitze. Unsere audiovisuellen Grundbedürfnisse werden vom Fernseher abgedeckt. Die übrigen Bedürfnisse befriedigt ein Radiokassettenrecorder, von dem nur das Radio gelegentlich benutzt wird.
Ich stecke das T-Shirt und die CD in die Plastiktüte einer Supermarktkette und trete aus dem Haus. Auf halbem Weg zu der Ecke, wo der Mirafiori geparkt steht, bleibe ich jäh stehen. Wieso denn ins Büro? Wenn sich hinter den beiden Gegenständen eine Botschaft verbirgt, dann ist Sissis die für deren Entschlüsselung geeignetste Person. Zu ihm muß ich gehen, nicht ins Büro.
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W enn es in Chalandri heiß ist, dann glüht der Asphalt in Ambelokipi. Wenn es in Ambelokipi heiß ist, dann glüht der Asphalt auf der Acharnon-Straße. Und wenn es auf der Acharnon-Straße heiß ist, dann dampft der Dekelias-Boulevard. Gerade verlasse ich den Boiler der Acharnon-Straße und begebe mich in den Hochofen des Dekelias-Boulevards. Unterwegs habe ich das Gefühl, Asphalt, Beton und Glas strahlten allesamt die Temperatur flüssiger Lava aus. Im Café Kanakis sitzen einige Rentner unter den Sonnenschirmen und starren benommen auf den Orangensaft oder das Eis vor ihrer Nase – unfähig, auch nur die Hand danach auszustrecken.
Ich halte beim erstbesten Kiosk an, kaufe eine Flasche Wasser, stürze sie in einem Zug hinunter und hoffe inständig, daß Sissis sein morgendliches Blumengießen noch nicht beendet hat, damit ich mich gleich mit unter den Wasserstrahl stellen kann.
Ich muß wohl knapp danach eingetroffen sein, denn der Boden im Hof ist noch feucht und dampft. Sissis thront oben im ersten Stock, den Oberkörper drinnen und die Beine draußen, und trinkt seinen Mokka. Obwohl er mein Kommen bemerkt, trinkt er weiter, als hätte er mich nicht gesehen. Gemächlich steige ich die Treppe zu seinem Söller empor, die Plastiktüte der Supermarktkette in der Hand.
»Deine Weisheit ist gefragt.«
Willkommenswünsche und andere Grußformeln haben wir längst fallenlassen. Manchmal sehen wir uns monatelang nicht, doch es ist, als würden wir einander tagtäglich besuchen. Wortlos steht er auf und tritt ins Haus. Ich sehe, wie er in der Küche verschwindet, und nehme auf einem der beiden alten Holzstühle Platz, die zusammen mit dem Kaffeehaustischchen sein Wohnzimmer bilden. Nach fünf Minuten kehrt er mit meinem Mokka zurück, den er – immer noch wortlos – vor mich hinstellt.
Auf einmal kommt mir der Gedanke: Was wäre, wenn ich Adriani und Katerina nicht hätte? Dann würden wir beide – eigenbrötlerische alte Männer – jeden Tag hier zusammenhocken, uns gegenseitig Mokka zubereiten und ihn wortlos austrinken. Das wäre die erste historisch belegte Wohngemeinschaft eines Bullen und eines Kommunisten. Ich gehe auf sein Spiel ein, und ohne ein Wort ziehe ich das rote T-Shirt mit Che Guevaras Visage aus der Tüte und halte es ihm hin. Er nimmt es entgegen, mustert es von allen Seiten. Dann fragt er langsam: »Schenkst du mir das für den Strandurlaub?«
»Ich hab es geschenkt bekommen. Minas Logaras, der Verfasser der Biographien von Favieros und Stefanakos, hat es mir geschickt.«
Ich erzähle ihm, daß nicht nur die Art und Weise der Selbstmorde übereinstimmen, sondern auch die Lebensgeschichten der drei. Und daß mir Logaras die dritte Biographie kurz vor Vakirtsis’ Freitod nach Hause geschickt hat.
»Verstehst du, wovon ich rede?
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