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Live!

Live!

Titel: Live! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petros Markaris
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einfach fortzusetzen wie eine hinfällig gewordene Übung.
    In der geräumigen Empfangshalle thront, gleich gegenüber dem Eingang, Favieros’ Porträt mit Trauerbinde. Darunter liegt ein Berg von Blumensträußen. Die Empfangsdame ist eine sympathisch wirkende Fünfzigjährige, einfach gekleidet und ungeschminkt.
    »Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?« fragt sie zuvorkommend.
    »Kommissar Charitos. Und das hier ist Kriminalhauptwachtmeisterin Koula –« Ich stocke, denn mit einemmal stelle ich fest, daß ich Koulas Nachname nicht weiß. Glücklicherweise bemerkt sie es sofort und greift ein.
    »… Kalafati. Angeliki Kalafati.«
    »Wir würden gerne einen der leitenden Angestellten sprechen«, ergänze ich höflich.
    »Ist etwas passiert?« fragt sie beunruhigt. Es ist erst wenige Tage her, daß sich etwas Schreckliches ereignet hat, und nun hält das Schicksal vielleicht schon das nächste Unglück bereit.
    »Nein nein, es handelt sich um eine reine Formsache. Verstehen Sie, wenn eine so bekannte Persönlichkeit Selbstmord verübt, und noch dazu in aller Öffentlichkeit, ist die Polizei verpflichtet, der Form halber Nachforschungen anzustellen, damit man ihr später nicht vorhalten kann, sie hätte nichts unternommen.«
    Innerlich hoffe ich, daß sich mein heruntergeleierter Vorwand glaubhaft anhört und sie nicht plötzlich auf die Idee kommt, bei der Polizei anzurufen.
    »Nehmen Sie einen Augenblick Platz«, sagt sie und greift nach dem Telefonhörer.
    Wir setzen uns in zwei Stahlrohrsessel, die ihrem Schreibtisch gegenüberstehen. Die Empfangshalle ist mit pedantischer Genauigkeit rekonstruiert worden. Bis zur Hälfte sind die Wände mit Holz verkleidet, während der obere Teil hellrosa gestrichen wurde. Die Schnitzereien der Kassettendecke haben ihre ursprüngliche Gestalt wieder angenommen und lassen die Sehnsucht nach Kerzenlüstern wach werden. Die Einrichtung ist im gängigen Bürostil gehalten: Stahlrohrsessel, Schreibtische aus Holz und Metall, Computer. Dennoch stören sie nicht, vielleicht weil sie so neutral wirken, daß der renovierte neoklassizistische Bau sie assimiliert, förmlich unsichtbar macht.
    Die Fünfzigjährige legt den Hörer auf die Gabel. »Herr Samanis, der Generaldirektor, wird mit Ihnen sprechen. Folgen Sie Herrn Aristopoulos.« Und sie deutet auf einen jungen Mann mit Krawatte und in kurzärmeligem Hemd, der bereits auf uns wartet.
    Wir fahren in die dritte Etage hoch, überqueren die Seufzerbrücke und betreten das moderne Bürohaus. Hier ist die Einrichtung karg, nichts erinnert mehr an die Zeit von König Otto und Amalia. Statt dessen dominieren Käfige aus Preßspan, die wie kleine, dicht aneinandergereihte Theaterbühnen wirken. Darin sitzen Frauen und Männer, die entweder in die Tasten ihres Computers greifen oder in ihre Mobiltelefone sprechen.
    Aristopoulos führt uns zu einer Tür ganz hinten, der einzigen auf der gesamten Etage. Früher wohnten die Reichen in den neoklassizistischen Bauten und die Bediensteten in den armseligen Hütten. Heute trennt sie nur eine Tür. Im vorderen Raum befinden sich die Darsteller auf ihren Bühnen, und hinter der Tür sitzt der Regisseur.
    Die zweite Fünfzigjährige, die uns begegnet, hat ihr Haar hochgesteckt, trägt Hose und Bluse aus weißem Leinen und ist, wie die erste, ungeschminkt. Plötzlich wird mir klar, daß sie auf diese Art und Weise um Favieros trauern, was ich sympathisch finde.
    »Treten Sie ein, Herr Samanis erwartet Sie schon«, sagt sie und fügt sogleich hinzu: »Was dürfen wir Ihnen anbieten?«
    Ich lehne höflich ab, und Koula schließt sich mir eilig an.
    Samanis muß im gleichen Alter wie Favieros sein, doch damit erschöpfen sich auch die Ähnlichkeiten. Favieros war mittelgroß und absichtlich nachlässig gekleidet, Samanis ist hochgewachsen und steckt im Anzug. Favieros hatte dichtes Haar und trug einen Dreitagebart, Samanis ist rasiert und bekommt langsam eine Glatze. Er empfängt uns im Stehen und streckt mir die Hand entgegen. Dann reicht er sie Koula, doch ganz mechanisch und ohne sie anzusehen, weil er seinen Blick auf mich geheftet hat.
    »Ich gebe zu, Ihr Besuch überrascht mich ein wenig.« Er betont jedes einzelne Wort. »Woher dieses plötzliche Interesse der Polizei an der Tragödie?«
    »Das kommt nicht ganz so plötzlich«, entgegne ich. »Wir haben bloß abgewartet, bis die ersten schwierigen Tage vorbei sind, um sie erst danach zu behelligen. Außerdem ist es nichts Dringendes. Es handelt

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