Live!
»Er war unerklärlichen Stimmungsschwankungen unterworfen. Nach einer hyperaktiven Phase verfiel er in Teilnahmslosigkeit. Manchmal kam es zu plötzlichen Ausbrüchen, wobei er die Leute grundlos anschrie, dann wieder zog er sich völlig in sich selbst zurück und wollte von keinem gestört werden.«
»Er war nicht immer so?«
»Jason? Keine Spur! Er war stets zuvorkommend, immer mit einem Lächeln und einem freundlichen Wort auf den Lippen. Alle hier haben ihn Jason genannt. Wenn ihn einer mit ›Herr Favieros‹ ansprach, wurde er ungehalten.«
Unvermutet beginnt sie zu weinen. Ein stummes Schluchzen, das man eher an den zuckenden Schultern bemerkt als an den Tränen. »Entschuldigen Sie, aber jedesmal, wenn ich von ihm spreche, habe ich dieses schreckliche Bild aus dem Fernsehen vor Augen.« Sie wischt die Tränen mit dem Handrücken weg. »Dieses Bild wird mich wahrscheinlich bis ins Grab verfolgen.«
»Was hat er gemacht, wenn er sich in sein Büro einschloß?« frage ich, um sie von ihrer Niedergeschlagenheit abzulenken.
»Er saß vor seinem Computer. ›Was tust du denn die ganze Zeit vor dem Rechner? Schreibst du an einem Roman?‹ habe ich ihn eines Tages gefragt, um ihn zu necken. ›Der ist schon fertig. Jetzt lese ich Korrektur‹, hat er vollkommen ernst geantwortet.«
Koula kommt aus dem Büro. »Ich bin fertig, Herr Kommissar.«
Wir verabschieden uns von der Lefaki und verlassen das Büro. Ich verzichte auf den Fahrstuhl und nehme die Treppe, um mich noch ein wenig an der Pracht aus Trikoupis’ Zeiten zu erfreuen.
»Ich benötige ein Programm, das gelöschte Dateien anzeigt«, erläutert mir Koula beim Hinuntergehen.
»Wozu?«
»Weil ich nichts finden kann. Und da ich nicht glaube, daß Favieros Tarot oder Tetris gespielt hat, kann das nur heißen: Er hat das, womit er sich wirklich befaßt hat, gelöscht.«
Ihre Erklärung klingt logisch. »Und woher wollen Sie so ein Programm bekommen?«
»Mein kleiner Cousin ist ein As auf dem Gebiet.«
Wir sind schon auf der Straße, als sie jäh stehenbleibt und mich anblickt. »Darf ich Sie was fragen?«
»Nur zu.«
»Warum hatte Favieros lauter fünfzigjährige Sekretärinnen in seiner Firma? Was wäre dabei gewesen, wenn er auch eine junge Frau eingestellt hätte, jetzt, da alle nach einer Stelle suchen?«
»Weil er nur Frauen, die unter der Junta im Widerstand waren, eingestellt hat.« Sie blickt mich sprachlos an. »Was gucken Sie so? Kinder von Polizisten besuchen vorzugsweise die Polizeischule, Kinder von Militärs vorzugsweise die Evelpidon-Militärakademie. Und in Favieros’ Firma haben vorzugsweise Widerstandskämpfer gegen die Junta Einlaß gefunden. Vergessen Sie das Gerede der Gruppe Philipp von Makedonien . In Griechenland hackt keine Krähe der anderen ein Auge aus.«
Sie scheint nicht überzeugt zu sein, wagt aber auch keinen Widerspruch.
13
A m späten Nachmittag rufe ich Gikas unter seiner Privatnummer an, um zu erfahren, wie man im Mordfall der beiden Kurden vorangekommen ist. Nicht, weil ich meine Meinung geändert hätte und nun glaubte, ihre Ermordung hätte etwas mit Favieros’ Selbstmord zu tun, sondern weil aus den Nachforschungen möglicherweise etwas herausspringt, was mir nützlich sein könnte.
»Machen Sie sich keine Hoffnungen«, meint Gikas.
»Wieso?«
»Weil Janoutsos nach Mafiosi sucht.«
»Das ist keine Mafiatat«, bekunde ich entschieden. »Es ist genau das, was im Bekennerschreiben angekündigt wurde: eine Hinrichtung durch Nationalisten aus der Vereinigung Philipp von Makedonien. «
»Das bringen Sie ihm mal bei.«
Mir liegt schon auf der Zunge, ihm zu sagen, es sei doch seine Aufgabe, ihm den richtigen Weg zu weisen. Doch mir ist klar, daß er mit voller Absicht schweigt: Er läßt ihn mit dem Kopf gegen die Wand rennen, um ihn dadurch endgültig zu Fall zu bringen.
»Aber vielleicht gibt es in ein paar Tagen Neuigkeiten.«
»Wie das? Wollen Sie Janoutsos überzeugen, anderswo zu suchen?«
»Nein, aber wahrscheinlich habe ich einen Weg gefunden, die Sache der Antiterrorabteilung zuzuspielen. Haben Sie etwas Neues zu berichten?«
Ich erzähle in groben Zügen von meinen Besuchen in Favieros’ Privathaus und Büro sowie auf der Baustelle.
»Das heißt, Sie haben nichts Auffälliges entdeckt?« fragt er ungläubig.
»Wie ich Ihnen schon sagte: Er war irgendwie abwesend, reizbar und schloß sich des öfteren in seinem Büro ein.«
»Aber wieso? Wieso isoliert sich ein Unternehmer wie Favieros,
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