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magst und du es mit Hängen und Würgen auslesen wirst.«
»Eher nicht, ich werde mir einreden, eine Dienstakte zu lesen. Dienstakten hängen mir genauso zum Hals raus wie Biographien.«
Sie staunt über dieselbe Tatsache wie ich. »Wie haben sie es bloß geschafft, innerhalb von wenigen Tagen eine dreihundert Seiten starke Biographie aus dem Boden zu stampfen?«
»Sie muß schon fertig gewesen und unmittelbar nach dem Selbstmord in Druck gegangen sein.«
»Dann müßten doch seine Angehörigen etwas davon wissen. Normalerweise hat der Autor doch Kontakt zu der Person, deren Leben er beschreibt.«
»Bravo. Mensch, Katerina!« rufe ich begeistert. »Wieso hab ich nicht gleich daran gedacht!«
»Warum, glaubst du wohl, möchte ich Staatsanwältin werden?« lacht sie. »Gib Mama einen Kuß von mir«, meint sie zum Abschluß.
»Küßchen von Katerina!« rufe ich Adriani zu, die mit Fanis plaudert.
Sie springt auf. »Leg nicht auf, ich komme.«
Die Küßchen dauern etwa eine halbe Stunde, umrankt von allen Vorfällen des Tages in Athen und Thessaloniki. In der Zwischenzeit bin ich mit Fanis in die Einzelheiten des Falles eingetaucht. Er findet die Geschichte mit der Biographie sehr merkwürdig und ist der Meinung, der Name des Autors werde sich als Pseudonym herausstellen.
»Warum glaubst du das?« frage ich.
»Weil er, wenn das sein richtiger Name wäre, jetzt doch in jedem Fernsehsender zu sehen wäre. Welcher Schriftsteller würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, für sein Buch die Werbetrommel zu rühren? Aber dieser Logaras läßt sich nirgendwo blicken. Kommt dir das logisch vor?«
Nein, keineswegs. Die Biographie hat, nach all dem, was Katerina und Fanis gesagt haben, meine Aufmerksamkeit geweckt, und ich habe es eilig, mit der Lektüre zu beginnen. Fanis verabschiedet sich gegen halb zwölf, Adriani geht ins Bett, und ich mache es mir im Wohnzimmer mit dem Buch in der Hand gemütlich.
Logaras scheint über Favieros’ Kindheit nicht viel zu wissen, da er sie kurz und bündig in den ersten fünfundzwanzig Seiten abhandelt. Favieros war am Koliatsou-Platz groß geworden, sein Vater war Rechtsanwalt, seine Mutter Lehrerin. Er hatte Volksschule und Gymnasium in seinem Wohnviertel besucht und die Aufnahmeprüfung ins Polytechnikum als Fünftbester bestanden. Von da an scheint Logaras jede Einzelheit aus Favieros’ Studentenleben zu kennen: was für Noten er hatte, mit wem er innerhalb und außerhalb des Polytechnikums verkehrte, mit welchen Kommilitonen er besonders befreundet war. Favieros zählte zu den Anführern der Studentenbewegung und hatte sich bereits sehr früh dem Widerstand gegen die Junta angeschlossen. Die Sicherheitspolizei hatte ihn ’69 festgenommen, jedoch nach sechs Monaten wieder freigelassen. ’72 wurde er wieder aufgegriffen, diesmal von der Griechischen Militärpolizei. Logaras weiß genau, wie lange, von wem und auf welche Weise Favieros gefoltert wurde. Solche Informationen kann er eigentlich nur von Favieros selbst erhalten haben, alles andere wäre verwunderlich. Aus dem Buch geht jedenfalls das Porträt eines beispielhaften jungen Mannes hervor – als Student hochbegabt, unter seinen Freunden allseits beliebt, politisch engagiert und im Kampf gegen die Junta an vorderster Front – eines Mannes, der grauenvoll gefoltert wurde und dennoch geistig und seelisch ungebrochen aus jener Zeit hervorging.
Gerade als ich Favieros’ Jugendjahre hinter mir lasse, taucht Adriani schlaftrunken im Nachthemd auf. »Bist du noch bei Trost?« fragt sie. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Nein.«
»Drei Uhr.«
»Hab ich gar nicht bemerkt. Deshalb ist es so ruhig.«
»Hast du vor, die ganze Nacht durchzumachen?«
»Mal sehen. Ich würde gerne das Buch zu Ende lesen, das mir Katerina geschickt hat.«
Sie schlägt das Kreuzzeichen, um sich gegen die bösen Geister zu wappnen, die sie im Schlaf heimsuchen könnten, und geht wieder ins Bett.
Favieros’ Studentenjahre sind etwa in der Mitte des Buches zu Ende. Dann setzt die Beschreibung seines beruflichen Werdegangs und seines Aufstiegs als Unternehmer ein. Logaras verhehlt nicht, daß Favieros durch seine Bekanntschaft mit Ministern und Regierungsfunktionären begünstigt wurde. Er hatte während des Studentenkampfes enge Verbindungen zu zumindest vier späteren Ministern und vielen Parteifunktionären geknüpft. Mit deren Hilfe kam er auch mit dem übrigen Ministerrat in Kontakt. Er fing bei Null an, mit einer kleinen Firma, die
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