Live!
Stunden Schlaf.
So lasse ich nun, um zehn Uhr morgens, den Mirafiori in der Garage des Polizeipräsidiums stehen und fahre mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage hoch. Koulas Vertretung hat wieder eine Zeitschrift vor sich liegen.
»Kommissar Charitos«, sage ich, denn ich bin mir sicher, daß er mich vergessen hat, da ich weder nach einem Toyota noch nach einem Hyundai aussehe.
Er wirft mir einen Blick zu und vertieft sich wieder in die Lektüre. Diesmal ist es ein Prospekt mit Mobiltelefonen, den er fast mit der Nase berührt.
Ich klopfe an Gikas’ Bürotür und trete sofort ein, ohne seine Aufforderung abzuwarten. Er steht mit dem Rücken zum Schreibtisch am Fenster und blickt träumerisch auf den Alexandras-Boulevard. Ein Anzeichen, daß ihm etwas gegen den Strich geht, denn sonst löst er sich nicht von seinem Schreibtischstuhl. Als er sich umdreht, halte ich an mich. Mir steht ein erschöpfter Mann gegenüber, mit blutunterlaufenen, müden Augen. Er blickt mich an wie jemand, dem ein großes Unglück widerfahren ist.
»Ich weiß, was Sie mir sagen wollen«, meint er. »Aber ich hatte keine Ahnung.« Er nimmt Platz und heftet seinen Blick auf das Etui mit Brieföffner und Papierschere auf seinem Schreibtisch. »Ich hatte keine Ahnung, Kostas. Alles ist hinter meinem Rücken passiert.«
In all den Jahren unserer Zusammenarbeit habe ich ihn wutentbrannt erlebt, teilnahmslos, liebedienerisch, bauernschlau … Als seelisches Wrack sehe ich ihn zum ersten Mal, und mein ganzer Zorn ist mit einem Schlag verflogen. Ich verschiebe alles, was ich mir für ihn aufgespart habe, auf unbestimmte Zeit und setze mich unaufgefordert auf meinen Stammplatz. Langsam hebt er den Blick.
»Nach so langen Jahren im Polizeikorps war ich der Meinung, daß mir die politische Führung des Ministeriums vertraute. Wenn jemand das Gegenteil behauptet hätte, so hätte ich ihm nicht geglaubt. Und man vertraute mir nicht aufgrund meiner Fähigkeiten, denn die stehen in meiner Position nicht an vorderster Stelle, sondern weil ich immer die Spielregeln einhielt, weil ich die Anweisungen ausgeführt habe, ohne sie zu hinterfragen. Gestern bin ich zum ersten Mal übergangen worden. Hier war nicht allein Gehorsam gefordert, sondern buchstabengetreue Umsetzung, selbst wenn das Verlangte widersinnig war und für mich peinlich werden konnte.«
Die Worte kommen matt und fast widerwillig über seine Lippen, aber sie wirken aufrichtig. Denn er zählt nicht zu den Menschen, die leicht die Flinte ins Korn werfen, noch zu denen, die einem schnell ihr Herz ausschütten.
»Ich habe noch sechs Jahre vor mir bis zur Rente«, fährt er fort. »Und in diesen sechs Jahren muß ich nun mit dem Zweifel leben, ob man mir die Wahrheit sagt oder sie vor mir geheimhält? Ist das ein Leben?«
Es fällt mir nicht leicht, Trostworte zu finden. Nicht nur jetzt, bei Gikas, sondern ganz generell, auch bei Adriani oder Katerina. Manchmal wünschte ich mir, meinem Gesicht wäre das Mitleid abzulesen, da mir die Worte im Hals steckenbleiben. So auch jetzt. Daher sage ich das Nächstliegende:
»Haben Sie von Janoutsos keine Erklärung gefordert?«
»Doch. Wissen Sie, was er mir geantwortet hat? Anweisung von oben, wenden Sie sich an den Ministerialdirektor.«
»Haben Sie ihn gesprochen?«
»Ja, und er hat mir gesagt, es sei nicht seine Aufgabe, mich auf dem laufenden zu halten. Meine Untergebenen hätten mich früher informieren müssen.«
»Wie bitte?«
»Aber, verstehen Sie denn nicht?« bricht es aus ihm heraus. »Sie! Man denkt, Sie hätten mich nicht darüber informiert, daß es eine Anweisung von oben gab, diese Schlägertypen dingfest zu machen!«
»Lassen Sie die anderen doch ins offene Messer laufen. Es wird sich kein Gericht finden, das sie verurteilt.«
Er blickt mich an und schüttelt betrübt den Kopf. »Kostas, Kostas! Sie liegen ja richtig, nur Ihre Sichtweise ist falsch. Man wird sie einsperren und sagen: Die Justiz soll sich darum kümmern. Und die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Bis die drei freigesprochen werden, gehen zwei Jahre ins Land. In der Zwischenzeit ist der Fall vergessen, und kein Hahn kräht mehr danach.«
Er hat recht. Da heutzutage Skandale, Sensationsmeldungen und Exklusiv-Reportagen Schlag auf Schlag aus den Massenmedien strömen, wird sich in zwei Jahren kein Mensch mehr an Favieros oder Stefanakos erinnern.
»Verstehen Sie, daß ich Ihnen in bezug auf Ihren Posten nichts mehr versprechen kann«, meint er. »Was auch
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