Live Fast, Play Dirty, Get Naked
Garcia.
Es gab eigentlich keinen anderen Namen für ihn.
Er ist jetzt vierunddreißig, was ich immer noch nicht glauben kann, vor allem, wenn mir bewusst wird, dass sein Vater inmeiner Erinnerung immer sechzehn sein wird. Es ist manchmal eigenartig, zu wissen, dass mein Sohn mehr als doppelt so alt ist wie sein Vater … das macht mich jedes Mal traurig, wenn ich dran denke.
Aber es kann auch sehr tröstlich sein.
William ähnelt seinem Vater sehr. Er hat die gleichen Augen, die gleichen Haare, das gleiche schöne Gesicht … er denkt auf ganz ähnliche Weise, ja, er klingt sogar wie sein Vater, besonders wenn er singt. Und wie sein Vater ist er ein begnadeter Musiker. Er hat Musik immer geliebt, schon von Kindheit an, und so wie er Williams musikalische Begabung geerbt hat, so hat er auch Williams Haltung zur Musik geerbt. Ich habe nie vergessen, wie William von Curtis’ »hohlen Träumen« sprach und mir sagte: »Wenn die Musik wirklich alles wär, was ihn interessiert, würde er einen Scheiß auf einen Plattenvertrag geben und der ganze Mist von wegen ›groß rauskommen‹ wär ihm egal … dann ginge es ihm nur ums Spielen.« Und ich weiß, William wäre stolz auf seinen Sohn, denn genau das Gleiche empfindet auch er in Sachen Musik. Er will einfach Songs schreiben und spielen. Er hat es solo getan, in Bands, für Geld, für lau … es war ihm nie wichtig, ob er von der Musik leben kann oder nicht. Solange er spielen darf, ist er glücklich.
Tatsächlich lebt er inzwischen aber von seiner Musik – sogar gut –, was bedeutet, dass ich ihn nicht so oft sehe, wie ich es mir wünschen würde. Aber wann immer ich Sehnsucht nach seiner Stimme habe, muss ich nur meinen iPod anstellen und kann seine Songs hören, egal wo ich bin. Und das Beste daran ist: Wenn ich zum Abney-Park-Friedhof fahre, was ich mindestens einmal die Woche tue, und dort die Wege entlanggehe, mich an William erinnere,auf unserer Bank sitze und um mich herum die Bäume und Statuen und die üppige Vegetation betrachte, die immer noch wild über die alten Gräber und Steine wuchert … dann kann ich, wenn ich Lust habe, die Musik unseres Sohnes hören und mir vorstellen, dass William sie mit mir zusammen hört.
40
Heute Morgen bekam ich eine E-Mail von meinem Sohn. Er ist im Moment auf Tour in Amerika, um sein neues Album zu promoten, aber egal wo er ist, er meldet sich immer bei mir – ruft täglich an oder schreibt eine Mail, nur um zu sagen, dass alles okay ist. Doch die Mail heute Morgen lautete einfach: Es ist an der Zeit, dass du dir das ansiehst, Mum. Die Mail hatte noch einen Anhang, ein Video … totp/23976/Naked/Naked.
Es war ein Video unseres Auftritts in Top of the Pops .
Ich hatte es nie angeschaut. Lange Zeit wusste ich nicht mal, dass die Aufnahme noch existierte – und selbst wenn, hätte ich sie wahrscheinlich nicht sehen wollen –, doch seit ein paar Jahren weiß ich, dass man auf YouTube alle möglichen alten Top of the Pops -Auftritte angucken kann und es auch bei UK Gold viele Folgen zu sehen gibt. Deshalb ging ich davon aus, wenn ich unseren Auftritt wirklich hätte sehen wollen, wäre ich sicher fündig geworden.
Ich wollte es einfach nicht.
Aber jetzt …
Jetzt, nachdem ich das Ganze hier niedergeschrieben habe, jetzt, nachdem ich in die Zeit von damals zurückgegangen bin und sie noch einmal durchlebt habe … jetzt ist mir, als ob ich etwas ausgetrieben hätte. Ich weiß, dass ich, wenn ich will, durchaus wieder in die Zeit zurückkann … ich weiß, es tut nicht mehr allzu weh. Und als ichheute Morgen Williams E-Mail las und begriff, dass er mir das Top of the Pops -Video geschickt hatte … wusste ich, er hatte recht.
Es war an der Zeit, es mir anzusehen.
Also tat ich es.
Mein Herz pochte, als ich das Video lud und auf Play drückte. Ich war unglaublich nervös, unsicher … ja, sogar ein bisschen ängstlich. Aber ich war auch gespannt, auf ängstliche Weise gespannt. Und als das Video losging … Gott, es war so bizarr. Es begann direkt am Ende des Wurzels-Auftritts, die Kamera schwenkte über die applaudierende Menge zu Tony Blackburn, der wie immer grinste, in seinem schrecklichen cremefarbenen Anzug, und wie ein Idiot mit zwei Teenagern in Minirock und engem T-Shirt flirtete … doch dann dreht er sich wieder zur Kamera und sagt: »Once again it’s tip for the top time on Top of the Pops and here’s a brand-new group with a brand-new song … it’s Naked …« Er macht eine Pause, grinst wieder.
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