Live Fast, Play Dirty, Get Naked
oben am Körper zu haben – alles wirkte völlig natürlich bei ihm. Und er wartete auch nicht, dass Curtis ihm sagte, was er spielen sollte, er wartete auf gar nichts, sondern fing einfach an.
Und als er es tat …
Es war atemberaubend.
In den ersten fünf Sekunden oder so, als seine Finger über das Griffbrett hüpften und die Luft mit der wunderbarsten Gitarrenmusik erfüllten, konnte ich nur den Atem anhalten und ihn fassungslos anstarren. Er spielte ohne Plektrum, zupfte und schlug mit Daumen und Fingern, wie ich es noch nie gesehen hatte. Und der Klang, der herauskam – eine Mischung aus Basstönen, Akkorden und Melodien zugleich – war mit keinem Gitarrensound vergleichbar, den ich je gehört hatte. Es schien fast, als ob zwei Gitarren gleichzeitig spielten.
Anfangs spielte er nichts Wiedererkennbares – ehrlich gesagt glaube ich, dass fast alles improvisiert war –, doch in dem, was er zu Beginn spielte, lag eindeutig etwas Irisches.Andererseits spielte er keinen traditionellen irischen Sound. Es ist schwer zu beschreiben, doch irgendwie gelang es ihm, etwas zu schaffen, das die Melodie und den Rhythmus traditioneller irischer Musik mit einem wesentlich härteren, wesentlich spitzeren Blues-Stil kombinierte.
Es war absolut umwerfend.
Ich schaute hinüber zu Curtis, wie er es fand, und seinem fassungslosen Blick nach zu urteilen, war er mindestens genauso beeindruckt wie ich, da war ich mir sicher.
Die nächsten paar Minuten improvisierte William einfach weiter. Das Irische verlor sich immer mehr und der Blues übernahm eine Weile die Führung. Dann machte er ziemlich nahtlos einer Reihe von wirkungsvollen kleinen Jazz-Riffs Platz, die er wiederum in einen unglaublich schrägen und merkwürdig synkopierten – aber überraschend eingängigen – Hardrock-Beat verwandelte.
Und als wäre das alles noch nicht genug, hörte er schließlich für den Bruchteil einer Sekunde auf zu spielen und ließ einen langen, klagenden Ton in der Luft schweben, während er kurz Lautstärke und Ton anpasste, um danach in die Anfangsakkorde von Naked überzuwechseln.
Nicht nur, dass er sie perfekt spielte – perfekt im Tempo und perfekt im Gefühl –, er spielte sie auch exakt so wie Curtis. Der gleiche Sound, der gleiche Rhythmus, die gleiche Gewichtung … sogar die Lautstärke war genau richtig. Und ich weiß nicht, ob es an dieser unheimlichen Kopie von Curtis’ Intro lag, dass Stan und ich anfingen zu spielen, oder ob es einfach die instinktive Reaktion auf die vertrauten Akkorde war … jedenfalls fielen wir wie gewöhnlich ein und es fühlte sich so stimmig an, dass ich überhaupt nicht an Curtis dachte , bis kurz vor dem Punkt, wo die Stimme hätte einsetzenmüssen. Mein spontaner Gedanke war, dass ihm das nicht gefallen würde, dass er wohl den Eindruck bekäme, William wolle ihn ausbooten oder so – er würde wütend oder empört oder eifersüchtig reagieren oder vielleicht einfach nur sauer sein. Doch als ich zu Curtis hinüberschaute, war ich positiv überrascht, ihn am Mikro stehen zu sehen, wo er sich zum Singen bereit machte. Und noch überraschter war ich, als ich merkte, dass er voll in die Musik einstieg: Er schloss die Augen, nickte mit dem Kopf zum Beat und machte all die verrückten Bewegungen, wie er es immer tat. Auch William bewegte sich jetzt zu der Musik, er hopste und hüpfte in einem merkwürdig einnehmenden Tanz – die Füße zuckten und ruckten und Kopf und Schultern wippten auf und ab. Es machte richtig Spaß hinzusehen. Und als Curtis anfing zu singen, war alles nur noch fantastisch. Der Song klang großartig, Williams Gitarre klang großartig, Curtis klang großartig … wir alle klangen einfach richtig, richtig gut.
Und was noch unglaublicher war: William spielte den ganzen Song ohne einen einzigen Fehler, obwohl er uns nur einmal zuvor hatte Naked spielen hören. Er machte absolut alles richtig – Strophe, Refrain, Bridge, Tonartwechsel … er erinnerte sich sogar daran, dass wir den Song, irgendwie unerwartet, nach der sechsten Wiederholung des Schlussgesangs beendeten (und nicht wie üblich nach der vierten oder achten), eine merkwürdige Marotte, die ich mir erst nach einer Ewigkeit hatte merken können. Doch William bekam den Schluss nicht bloß nach ein Mal Hören genau richtig hin, bei diesem einen Mal hatte ich die Stelle auch noch vermasselt – das heißt, er bekam den Schluss genau richtig hin, obwohl er ihn zuvor nur ein einziges Mal und da schlecht gespielt gehört
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