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Titel: Live Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein Thriller
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nicht mehr so laut vor. Vielleicht war sie schon taub geworden. In ihren Ohren klingelte es nicht mehr.
     
    Der Schuß klang wie ein weit entferntes Sommergewitter. Julie preßte sich die Hände gegen ihre Ohren, drückte ihren Rücken gegen das Regal und hielt die Augen geschlossen.
     
    Der ältere Polizist machte ein Geräusch.
     
    Julie hatte schon sehr häufig Menschen schreien hören können. Sie war mehr als fünf Jahre Oberschwester in der Ambulanz und der Notaufnahme gewesen. Diese Schreie hatten nur aus Schmerzen bestanden, waren aus Schmerzen geboren worden und manchmal aus der Angst, die nächste Nacht vielleicht nicht mehr überleben zu können. Das Geräusch des älteren Polizisten war schlimmer.
     
    Er war nur ein erstauntes Gurgeln.
     
    Nicht mehr.
     
    Sie hatte noch nie etwas schlimmeres gehört.
     
    Der mögliche Schrei verendete schon im Mund und hatte Mühe, noch über die Lippen getragen zu werden, als der Mann zurücktaumelte und mit seiner Hand nach seiner Brust griff und anstelle seiner Uniform nur noch zerfetztes Fleisch zu fassen bekam. Als er mit jedem Atemzug Blut in die Lunge sog, sein eigenes Blut, das sich in den Lungenbläschen festsetzte und ihn ersticken würde. Der ältere Polizist schrie nicht.
     
    Der Jüngere tat es.
     
    „Norm!“
     
    Ein zweiter Schuß. Julie hörte das Splittern von Beton und Holz, dann einen unterdrückten Fluch…
     
    …und etwas…
     
    …jemand bewegte sich an ihrer Seite. Sie wollte aufschreien, konnte es aber immer noch nicht. Ihre Kehle war zugeschnürt. Julie griff mit ihrer Hand nach rechts und hielt Josh an der Schulter fest. Der Junge hatte sich nicht bewegt.
     
    „Josh“, krächzte sie.
     
    Da war eine Bewegung. Jemand ließ ein wütendes Knurren hören. Ein zweiter Schuß. Die Bewegung. Julie riß den Kopf herum, um Big Mike Garrett hochschnellen zu sehen, schneller, als er mit seinem Übergewicht hätte sein dürfen.
     
    Der Mann hatte den Kopf zwischen die Schultern genommen, heruntergedrückt und rannte mit einem gewaltigen Kampfschrei auf Turow zu, beide Fäuste geballt.
     
    „Wie in Frisco“, sagte jemand. „Ganz genauso wie in Frisco. Wird uns alle umbringen.“
     
    Julie dachte zusammenhangslos, wieviele Informationen der menschliche Verstand gleichzeitig verarbeiten konnte. Verrückt. Wer hatte da eben gesprochen? Sie wußte es nicht.
     
    Big Mike sprang auf Turow zu.
     
    Die letzten Schritt schienen seine schweren Lederstiefel gar nicht mehr den Fußboden zu berühren; er schwebte über den Fliesen, ein gigantischer, verwischter Schatten in ihren Augenwinkeln.
     
    Es ging so schnell. Der Schrei des jungen Polizisten. Big Mikes Gebrüll. Die Schüsse. Eine Sekunde? Zwei? Mehr? So verdammt schnell.
     
    Turow verlagerte das Ziel seiner Pistole ohne auch nur einen Moment zu zögern. Big Mike hatte den Tresen beinahe erreicht, als er in die Mündung der Automatik sah. Julie sah weg.
     
    Der nächste Schuß schien übermäßig laut zu sein. Schrie sie?
     
    Später, als die anderen Polizisten kamen, viel, viel später, da konnte sie sich nicht mehr erinnern. Es war eine Ewigkeit später. Ein Leben später. Und nochmals später, als die Reporter kamen und ihr dieselben Fragen stellten wie die Polizisten, da sagte Julie nur: „Wir haben alle geschrien.“
     
    Sie überlegte einen Augenblick, als die Erinnerungen an die Nacht zurückkamen, die Scheinwerfer bei CNNs Piers Morgan Live wegdrängten und das Fernsehstudio in dieselbe Dunkelheit, dasselbe Zwielicht tauchten, die sie so gut kannte. Vor der sie sich so sehr fürchtete, daß sie den Rest ihres Lebens nur mit eingeschaltetem Licht würde einschlafen können. Sie überdachte die Frage, die von Piers Morgan gestellt worden war, nickte dann und wiederholte ihren Satz, ohne etwas hinzuzufügen.
     
    Es war die Wahrheit.
     
    Vielleicht hatten sie nicht geschrien.
     
    Nicht alle. Nicht alle mit Worten. Unartikuliert. Aber der Schrei war da gewesen. In ihren Köpfen. Also nickte sie nur und wiederholte: „Wir haben alle geschrien. Manchmal, Mr. Morgan, manchmal glaube ich, daß wir heute noch schreien. Manchmal glaube ich, daß wir seit jener Nacht nie mehr aufgehört haben zu schreien.“
     
    Piers Morgan nickte, als würde sie verstehen, was Julie Winters da gesagt hat, mit dem besorgten, irgendwie sehr britischem Ausdruck in den Augen des Talk Show Hosts.
     
    „Aber Sie haben die Nerven behalten, Julie, nicht wahr?“ meinte er, nachdem er einen kurzen Blick

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