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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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etwa nicht wieder in Schwierigkeiten?
    Und eine unfassbare, unvergessliche Sekunde lang hatte ich gespürt, dass mein Gebet angekommen war.
    »Du sollst erzählen! Das ist das Gebot der Heiligen Schrift, und daher kommt der Name des Buches, das wir lesen: Haggada, Erzählung!«
    Ausführlich folgt die Geschichte des Auszugs der Israeliten aus Feindesland, an den passenden Stellen wird gesungen und werden Matzen, Meerrettich und eine süße Apfel-Nuss-Mischung verspeist. Erst dann beginnt die eigentliche Mahlzeit.
    Mrs Shepard und Gary trugen die Speisen aus der Küche herein, eigentlich hatte ich helfen sollen, aber ich brachte es nicht fertig, mit meiner Pflegemutter hinauszugehen.
    Dafür verwickelte mich Garys Großmutter in ein Gespräch. Sie war in den Zwanzigerjahren in Berlin gewesen, im Kranzler, in der Oper, zum Bummeln auf dem Kudamm, und schwärmte in höchsten Tönen von meiner Heimatstadt. In den ersten Minuten hörte ich gar nicht richtig zu vor lauter Aufregung, dass sie sich mit mir abgab, aber je mehr ich verstand, desto unbehaglicher wurde mir. Wusste sie denn nicht, dass sie, wenn sie in diesen Tagen in Berlin gewesen wäre, nirgendwo bummeln, sondern Schlange stehen würde, um so schnell wie möglich herauszukommen?
    Es musste so sein, sonst hätte sie bestimmt nicht gesagt: »Du wirst es, wenn du aus Berlin kommst, in diesem Haus ja ausgesprochen öd finden.«
    Und wie sie das sagte! Ihr Blick war herablassend und verschwörerisch zugleich, als wüsste ich schon ganz genau, was sie meinte! Ich wagte nicht, ihr zu widersprechen, aber ihr nicht zuzustimmen war etwas anderes – hoffte ich. So verschluckte ich das Nein, antwortete entschuldigend: »Eigentlich finde ich es hier sogar sehr nett«, und stand kurz davor, am Ohrläppchen zu drehen oder in der Nase zu popeln vor Verlegenheit, weil sie so unangenehm war.
    »Nett? Aha …« Sie bekam einen ganz süßen Ton, der mich irgendwie an Kaa denken ließ, die Schlange aus dem Dschungelbuch. »Und was genau findest du nett, mein Kind?«
    »Die Familie«, erwiderte ich unbeholfen. Das Wörterbuch klebte feucht unter meiner Hand; erst jetzt merkte ich, dass ich es fest umklammert hielt, während sie mit mir redete. »Ich lerne Englisch«, fügte ich mutiger hinzu. »Und viele andere Dinge. Es ist schön, bei einer orthodoxen Familie zu sein.«
    Letzteres ergänzte ich auch, um ihr eine Freude zu machen, denn Mrs Shepard und Gary hatten sich wieder zu uns gesetzt und ich fühlte mich bereits dafür verantwortlich, die Großmutter bei Laune zu halten.
    Doch Julia Shepard lächelte kühl. »Du bist bei keiner orthodoxen Familie«, sagte sie.
    Das verschlug mir vollends die Sprache. Garys Großmutter verlor danach augenblicklich das Interesse an mir, wandte sich ab und beäugte kritisch die Hühnersuppe, die ihr Dr. Shepard auf den Teller schöpfte. Weder er noch Gary gingen auf die letzte Bemerkung ein, die gefallen war, und Mrs Shepard, die sich immer noch unsichtbar machte, sowieso nicht. Ich musste mich wohl wieder einmal verhört haben.
    Erst nach Stunden, als die alten Shepards in ihr Auto stiegen, Dr. Shepard seine Frau an die Hand nahm, um noch ein wenig im Dunkeln spazieren zu gehen, und Gary und ich allein im Haus zurückblieben, hatte ich das Gefühl, wieder richtig Luft holen zu können.
    »Nun?«, fragte Gary nach einer Weile. »Was denkst du?«
    »Well …«, sagte ich. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich well sagte und die Bekanntschaft der unzähligen Bedeutungsmöglichkeiten machte, die dieses kleine englische Wort enthält. Noch während ich darüber nachdachte, ob ich Gary ehrlich sagen konnte, dass ich seine Großmutter für die zweitböseste Frau hielt, die ich je getroffen hatte (gleich nach unserer ehemaligen Nachbarin Bergmann), oder lieber die Rede auf das Essen, den Synagogenbesuch, das Wetter, auf alles außer seinen Großeltern lenken sollte, hatte er mein well bereits richtig verstanden und antwortete: »Einmal im Jahr ist das schon auszuhalten.«
    »Ich hoffe, deine anderen Großeltern sind netter«, murmelte ich.
    »Die O’Learys?« Er warf mir einen traurigen Seitenblick zu. »Die kenne ich nicht einmal. Die wollen nichts mit uns zu tun haben.«
    Es half nichts. Ich ließ mir durch den Kopf gehen, was er gerade gesagt hatte, wendete die Sätze hin und her, aber es kam einfach nichts Gutes dabei heraus. Diesmal, da machte ich mir nichts vor, hatte ich richtig verstanden.
    »Es gibt da etwas, was du

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