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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Sie vollführten einen vollendeten Knicks. »Hello«, flüsterte ich dankbar. Ich war nicht gemeint. Im ersten Augenblick zählte nichts anderes.
    Das Nächste, was ich weiß, ist, dass wir im Wohnzimmer Platz nahmen, dem kleinen bescheidenen Raum, der an diesem Abend vor Festlichkeit nur so glänzte, und dass die alten Shepards keinen Blick dafür hatten. Dass mein Herz sich anfühlte wie im Griff einer rohen, unnachgiebigen Faust, die mir nicht erlauben wollte, normal zu atmen. Dass meine Erleichterung den ersten Augenblick nicht überdauerte, sondern gleich überschattet wurde von der bangen Sorge, was weiter passieren würde.
    Mrs Shepard hängte schweigend die beiden Mäntel auf und ging in die Küche, um das Begrüßungsgetränk zu holen, das sie vor dem Gang in die Synagoge anbieten wollte. Und jäh ertappte ich mich bei dem Wunsch, sie würde nicht zurückkommen, sie würde dort bleiben, um ihret- und um unsretwillen.
    Mein erster Gedanke war gewesen: Das kann nicht sein! Niemand kann Mrs Shepard hassen!
    Doch etwas war noch größer als meine Zweifel. Es fegte hinweg, was da hätte sein sollen – Betroffenheit, Mitgefühl, Empörung. Was blieb, war nur noch die Angst, dass sie, die ich in so kurzer Zeit zu lieben gelernt hatte, wieder zu uns stieß.
    Mit diesem Blick wollte ich nichts mehr zu tun haben.
    Gleich als ich das spezielle Büchlein gesehen hatte, das für die Sederfeier benötigt wurde, war mir klar gewesen, dass Pessach eine kompliziertere Angelegenheit werden würde als der Schabbat. Manches war mir schon vertraut: der Weinsegen Kiddusch mit einem speziellen kleinen Silberbecher, das Händewaschen, die Gebete über den Bestandteilen der Mahlzeit. Doch diesmal bestand sie aus recht merkwürdigen Dingen. Da gab es ein Ei als Symbol des Lebens, ein Lammknochen stand für das Opfertier und Petersilie wurde in ein Schälchen Salzwasser getaucht und gegessen, um sich an die Tränen des Volkes Israel zu erinnern. Drei Matzenscheiben, dünnes Knäckebrot aus ungesäuertem Mehl, lagen unter einem Tuch. Dr. Shepard deckte sie auf, brach das mittlere Stück durch und legte eine Hälfte beiseite. »Seht, Kinder, das ist das ärmliche Brot, das einst in Ägyptens drängender Not …«
    Ich starrte ängstlich in meine Haggada, um zu erkennen, wann ich an die Reihe kam. Wieso hatte ich mich bloß darauf eingelassen? Wie sollte ich auch nur ein Wort herausbringen, mit den strengen alten Shepards direkt vor meiner Nase? Was, wenn sie erkannten, dass mit mir – auch mit mir! – etwas nicht stimmte? Schon in der Synagoge hatte ich wie erstarrt zwischen Mrs Shepard und ihrer Schwiegermutter gesessen und mich kaum zu rühren gewagt.
    Gary saß an diesem Abend neben mir, seine Eltern rechts und links an den kurzen Enden der Tafel. Aber Mrs Shepard verschmolz mit der Umgebung und ich wagte nicht, zu ihr hinüberzusehen.
    Ein zweites Glas Wein wurde jedem eingeschenkt. Eine kleine Pause entstand. »Nun, Gary?«, fragte Dr. Shepard wohlwollend.
    Aber Gary machte ein amüsiertes Gesicht. »Ich bin nicht mehr der Jüngste am Tisch, Dad, hast du das vergessen?«
    Plötzlich sahen alle auf mich und es war ganz, wie ich befürchtet hatte: Nicht ein einziges der Worte, die ich eben noch im Schlaf beherrscht hatte, wollte mir mehr einfallen! Ich merkte, wie es still wurde, wie alle warteten, wie ich den Mund öffnete und nichts passierte.
    Doch dann legte sich eine Hand auf meine und Gary fing einfach an zu singen! Ich besann mich und fiel ein, hielt seine Hand fest und merkte gar nicht, wie er nach wenigen Silben verstummte. Meine Stimme wurde fester, ich sang allein, der Gesang vertrieb die alten Shepards aus meinem Kopf, ich dachte an meine Eltern, an Bekka, an Ruben.
    Warum ist dieser Abend anders als alle anderen? Warum essen wir an allen anderen Abenden gesäuertes Brot, heute aber ungesäuertes? Warum essen wir an allen anderen Abenden beliebige Kräuter, heute aber nur Bitterkräuter? Warum …
    Als ich verstummte, blieb es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Ich lehnte mich zurück, plötzlich zum Umfallen müde.
    »Mein lieber Mann«, sagte Gary später. »Das war gespenstisch. Was ist passiert?«
    Wie hätte ich es ihm erklären können? Ich hatte an einige meiner liebsten Menschen gedacht und sie Jesus und seinem Vater ans Herz gelegt.
    Ist dies etwa nicht das Pessachfest, das Fest der Errettung des Volkes Israel? Ist das Volk Israel etwa nicht das Volk Gottes? Ist es

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