Liz Balfour
Tag leben musste. Ich wollte nicht, dass es jemand anderes aussprach. Ich wollte nicht, dass jemand sagte: Colin Sullivan war ein Alkoholiker. Jedes Mal, wenn ich etwas getrunken hatte, beschlich mich die Furcht, selbst so werden zu können, und ich passte in den folgenden Tagen besonders auf, was ich trank. Dann verflog die Angst wieder, um beim nächsten Glas Wein zurückzukehren. So ging es schon mein ganzes Leben. Nachdem ich gestern Nacht mit Kate getrunken hatte, waren diese Gedanken heute wieder besonders schlimm. »Ich weiß«, wiederholte ich gereizt. »Und was hat das mit seinem Tod zu tun? Meinen Sie, weil er betrunken am Straßenrand entlanggetorkelt ist? Das weiß ich auch schon.«
»Langsam, Mädchen«, sagte Cathal und schenkte mir
ein trauriges Lächeln. »Es gab einen Grund, warum er getrunken hat. Der Grund war Deirdre. Dein Vater liebte Deirdre mehr als alles andere auf der Welt. Als sie seinen Heiratsantrag annahm, war er der glücklichste Mensch, den man sich vorstellen kann, und sein Glück schien perfekt, als du geboren wurdest. Aber dann veränderte er sich, wurde immer stiller und ernster und trank immer mehr. Am Ende war ich der Einzige, mit dem er noch redete.«
Siobhan hatte es fast genauso geschildert: Colin hatte sich im siebten Himmel gewähnt, und dann war er hart auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen. Er hatte von Martin O’Connor gewusst, keine Frage. Ich sah Cathal an. Seine wässrigen graublauen Augen waren trüb, aber in seinem Gesicht spiegelte sich sein wacher Geist. »Er wusste, dass sie einen anderen liebte.«
Cathal nickte. »Sie hat es ihm nie gesagt, aber er hat es gespürt. Irgendwann wachte er morgens auf und wusste es. Er sagte: Ich weiß, dass das Kind von mir ist, ich weiß, dass Deirdre alles tut, um mich glücklich zu machen, aber ich weiß auch, dass sie nicht glücklich ist, weil ich nicht der bin, den sie wirklich liebt, auch wenn sie sich die allergrößte Mühe gibt, es zu tun.«
»Das hat er gesagt?« Mir stiegen Tränen in die Augen.
»Das hat er gesagt. Er hat noch jahrelang gehofft, dass er es sich nur einbildete und dass Deirdre ihn irgendwann richtig lieben könnte. Ich sagte immer zu ihm: Woher willst du wissen, dass sie es nicht tut? Sie hat dich geheiratet, sie lebt mit dir! Und er sagte: Ich sehe es ihr an, sie versucht es zu verstecken, aber ich sehe es ihr an. Weißt du, Alannah, ich dachte anfangs wirklich, er bildet
sich das nur ein. Aber dann sah ich die beiden zusammen und wusste, was er meinte.«
»Was? Was haben Sie gesehen?«
»Die Sehnsucht in ihrem Blick.« Er drehte seinen Kopf zum Fenster und sah hinaus. »Die Sehnsucht nach etwas, das man nie haben kann. Dein Vater erkannte den Blick. Und ich auch, weil ich ihn als junger Mann selbst mit mir herumgetragen hatte.«
»Haben Sie diesen Blick noch immer?«
»Nein, ich kam drüber hinweg. Dein Vater hatte nicht so viel Glück, und wenn ich ehrlich bin, das ist der Grund, warum Deirdre und ich nie wirklich Freunde wurden. Colins Leid stand immer zwischen uns. Sie ging mir aus dem Weg, weil ich davon wusste, und ich nahm ihr übel, dass sie ihn so unglücklich gemacht hatte. Dein Vater litt und hoffte zwanzig Jahre lang an ihrer Seite. Dann gab er auf.«
Ich wischte mir mit beiden Händen die Tränen von den Wangen. »Er hatte doch schon vorher aufgegeben und angefangen zu trinken«, sagte ich verwundert.
Cathal nahm meine Hand ganz fest in seine. »Er konnte nicht mehr«, sagte er sanft. »Er wollte einfach nicht mehr.«
Erst jetzt verstand ich, was er mir damit sagen wollte. »Er hat sich umgebracht? Er ist absichtlich vor dieses Auto gelaufen?«, flüsterte ich.
Cathal nickte. »Zuvor hatte er alles testamentarisch geregelt. Kein Grab, darauf legte er besonderen Wert. Er hatte einmal gesagt: ›Ich will nicht, dass sich meine Frau und meine Tochter zu einem Erdhügel quälen und Blumen pflanzen, die keiner von uns mögen würde‹. Aber er
hat auch einmal zu mir gesagt, dass er das Gefühl hat, eine Belastung für deine Mutter zu sein. Vielleicht wollte er sie nicht noch über seinen Tod hinaus belasten.«
Ich atmete tief durch. »Meine Mutter ist schuld an seinem Tod. Ist es das, was Sie mir damit sagen wollen? Sehen Sie es so?«
Cathal schüttelte den Kopf. »Ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass deine Mutter keine Schuld daran hatte. Es war Colins Entscheidung. Genau wie es Colins Entscheidung gewesen war, bei Deirdre zu bleiben. Er hätte gehen können,
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