Liz Balfour
nächsten Tages. Dann lud ich die Attachments runter, die mir Benjamin geschickt hatte, und fing an, sie nacheinander durchzugehen. Gerry, der Wirt, hatte jemanden losgeschickt, wie er mir erzählte, um Teebeutel zu besorgen. Ich war ehrlich gerührt.
Die Musiker waren immer noch da, ich erkannte den Alten mit der Flöte und den Fiddler wieder. Sie hatten mittlerweile Verstärkung bekommen, und immer wieder wurden neue Lieder angestimmt. Einem Plakat, das neben dem Durchgang zu den Toiletten hing, entnahm ich, dass der Sonntag so etwas wie die Open Stage für Folk Music war. Der alte Flötist nickte mir fröhlich zu, ich nickte zurück und widmete mich wieder meinem Laptop. Doch schon nach wenigen Minuten wurde es im Pub unruhig, und als ich aufsah, starrten mich lauter grinsende Männer an. Der Alte erklärte gerade zur Freude aller, er würde mir das Lied »The Star of the County Down« widmen, weil ich angeblich so aussah, wie er sich die besungene Rosie McCann immer vorgestellt hatte, eine Elfe mit nussbraunem Haar. Ich musste lachen, trotz allem. Mein Ärger darüber, dass ich es nach so vielen Jahren immer noch nicht schaffte, die Querelen mit meiner Mutter in
den Griff zu bekommen, verflog für einen Moment, und meine Fußspitze wippte im Takt, während ich mich um meine Mails kümmerte.
Benjamin und ich waren auf Wirtschafts- und Steuerrecht spezialisiert. Zu unseren Mandanten zählten zahlreiche große Firmen. Wir hatten bei den Besten in der Branche gelernt. Vor drei Jahren hatte Benjamin, der immerhin zehn Jahre mehr Berufserfahrung hatte als ich, vorgeschlagen, dass wir uns selbstständig machen sollten. Es klappte besser, als ich zu träumen gewagt hätte. Mittlerweile hatten wir knapp zwanzig Mitarbeiter und rund um die Uhr zu tun. Benjamin beriet unsere Klienten beim Aufsetzen und Abschließen von Verträgen. Wann immer etwas vor Gericht ging, kam mein Auftritt.
Tina Carter, für die ich einspringen musste, kannte ich vom Studium. Danach hatten wir uns aus den Augen verloren. Aber als Benjamin und ich unsere eigene Kanzlei aufbauten, suchte ich nach ihr, fand sie und machte ihr ein Angebot, das sie hocherfreut annahm. Sie war fleißig, clever und kreativ. Und sie war extrem zuverlässig. Dass sie einmal ausfiel, war noch nie vorgekommen. Es musste etwas sehr Ernstes mit ihrem Vater sein. Tina sprach so selten über ihre Familie, ich hatte schon fast vergessen, dass sie überhaupt eine hatte. Andererseits sprach ich auch nie über meine Eltern. Ich schickte ihr eine SMS, in der ich ihr alles Gute und ihrem Vater gute Besserung wünschte. Dann schrieb ich noch eine SMS an Kate, meine beste Freundin: »Nicht lustig hier. Komme früher, aber nicht früh genug. Kuss.«
Benjamin schrieb ich eine Mail: »Alles angekommen,
danke. Und: KEINEN Dank für den Nebel und die gestrichenen Flüge, das war ja wohl alles deine Idee, damit ich hier festsitze bis morgen früh?!«
Er schrieb nur Sekunden später zurück: »Meine mentalen Fähigkeiten machen mir selbst manchmal Angst.«
Ich lachte, dann vertiefte ich mich in die Unterlagen. Nach ungefähr einer Viertelstunde hatte ich das Gefühl, jemand würde mich beobachten. Natürlich beobachten sie dich, dachte ich. Du sitzt hier mit deinem Laptop, während alle anderen ihren Sonntagabend mit Gesang und Guinness bestreiten. Es wäre komisch, wenn sie nicht schauen würden.
Trotzdem wanderte mein Blick über den Bildschirmrand. An meinem Tisch stand jemand. Ich sah hoch und schaute dem Mann direkt in die Augen, der vor wenigen Stunden mit seinem Defender das Pferd gejagt hatte. Er starrte mich wirklich an, anders als die restlichen Gäste, die bloß neugierig waren. Er stand einfach nur direkt vor mir und sah aus wie vom Donner gerührt, wie jemand, der einen anderen Menschen gerade erst wiedererkannt hatte. Dem in dieser Sekunde eingefallen war, wen er vor sich hatte.
Ich spürte, wie es mir kalt den Rücken hinunterlief. Was hatte ich da nur beobachtet? Pferdediebe, mit hoher Wahrscheinlichkeit. Tierquäler, wenn ich Pech hatte. Ich war die einzige Zeugin, die ihn und seinen Freund gesehen hatte. Und das konnte ihm wohl kaum gefallen.
Ich versuchte, nicht zu hektisch zu wirken, wie ich meine Sachen zusammenpackte, aber es half nichts. Erst fiel mir ein Kugelschreiber runter, und als ich ihn aufhob und in meine Handtasche werfen wollte, rutschte mir
der Schlüssel aus der Manteltasche. Ich bückte mich ein zweites Mal unter den Tisch, und als ich wieder
Weitere Kostenlose Bücher