Liz Balfour
sich seltsam leer an ohne meine Mutter, und es wirkte noch fremder auf mich als bei meinem letzten Besuch vor wenigen Monaten. Wie ein altes Haus, das schon seit Monaten nicht mehr bewohnt wurde. Dabei war sie erst gestern ins Krankenhaus gekommen.
»Darüber müssen wir wohl im Moment nicht nachdenken, oder?«, sagte ich hastig.
»Ich will nicht, dass sie stirbt«, hatte ich als Erstes zu Benjamin gesagt, als er endlich wieder im Krankenhaus aufgetaucht war. In einer Stofftasche hatte er drei Taschenbücher, den Covern nach zu urteilen Krimis, und ein paar CDs. Irgendwo hatte er unterwegs noch einen kleinen tragbaren Player aufgetrieben. Ich sah mir die CDs an: traditionelle irische Musik. Die meisten Titel waren auf Gälisch. Nur wenige auf Englisch. Aber einen Titel erkannte ich: »The Star of the County Down«. Als ich die nächste CD in die Hand nahm und umdrehte, fand ich dort ein Foto von den Musikern. Einer von ihnen war der
alte Mann, den ich im Pub von Myrtleville gesehen und später im Flugzeug getroffen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Benjamin. Er hatte eine Krankenschwester aufgetrieben, die ihm half, den CD-Player richtig anzuschließen.
»Wir wollen ja nicht, dass Sie die falschen Stecker rausziehen«, sagte sie jovial.
»Bist du okay?«, fragte Benjamin noch einmal, weil ich immer noch nachdenklich auf die CD-Hülle sah.
»Manchmal gibt es komische Zufälle«, murmelte ich. »Aber ja, ja, ich bin okay, danke.«
Wir hatten noch eine Stunde an ihrem Bett gesessen und Musik laufen lassen, dann hatte ich ein paar Seiten aus einem der Bücher vorgelesen. Es war schon spät, als ein Arzt, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, zu uns reinschaute und uns bat, selbst ein wenig Ruhe zu finden.
»Ich will nicht, dass sie stirbt«, sagte ich wieder, als wir im Mietwagen saßen und zum Hotel fuhren.
»Sie wird nicht sterben«, sagte Benjamin.
Aber natürlich hatte ich die ganze Nacht wach gelegen und an nichts anderes gedacht. Ich bereute jeden Streit, jedes böse Wort, das zwischen uns gefallen war. Ich bereute die Sprachlosigkeit, die Vorwürfe, die ich ihr gemacht hatte, nachdem mein Vater gestorben war. Am frühen Morgen, als die Sonne schon wieder aufging, war ich schließlich so weit, mich für alles zu hassen, was geschehen war. Alles würde ich tun, damit meine Mutter nur überlebte, schwor ich mir, auch wenn ich wusste, wie sinnlos dieser Schwur war.
Denn es gab absolut nichts, was ich tun könnte, um sie zu retten.
Dr. Murphy sah mich lange an, bevor sie weitersprach. Sie war ungefähr fünfzig Jahre alt, hatte kurzes braunes, grau meliertes Haar und leuchtend grüne Augen. Anders als ich bei meinen Terminen trug sie keine Businesskleidung, sondern eine braune, ausgebeulte Stoffhose zu flachen, praktischen Schuhen und eine schwarze, nicht ganz vorteilhaft geschnittene Bluse. »Es gibt da noch eine Sache. Ihre Mutter hat mich gebeten, gewisse Schritte einzuleiten, wenn sich abzeichnen sollte, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen kann.«
Ich protestierte. »Aber das ist doch noch gar nicht gesagt. Sie kann jeden Moment aufwachen, und dann …«
»Dr. Russell, ich verstehe, wie Sie sich fühlen«, unterbrach mich die Anwältin. »Aber bedenken Sie, dass ich im Interesse Ihrer Mutter handele.«
Benjamin nahm meine Hand und nickte mir zu.
»Entschuldigung«, sagte ich.
»Ihre Mutter möchte das Cottage verkaufen.«
Ich dachte erst, ich hätte mich verhört. »Sie meinen, nach ihrem … Tod soll es verkauft werden? Aber darüber müssen wir doch nicht heute sprechen.«
Sie hob den linken Zeigefinger leicht an, eine dezente Geste, um mich zum Schweigen zu bringen. »Deirdre hat sich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken getragen. Ihr liegt ein sehr gutes Angebot vor. Ich habe ihr geraten, es anzunehmen, aber sie war sich unschlüssig. Wir haben lange darüber geredet, und sie hat sich wie folgt entschieden. « Dr. Murphy nahm ein weiteres Dokument aus ihrer Aktenmappe und gab es mir. Ich las:
»Sollte ich zum Pflegefall werden oder mich aus anderen Gründen nicht mehr selbst versorgen können, möchte
ich, dass mein Cottage sowie das dazugehörige Land verkauft wird. Um meine Pferde kümmert sich weiterhin Eoin O’Connor …«
Ich sah auf. »Welche Pferde?«
Die Anwältin zog die Augenbrauen hoch, antwortete aber nicht. Ich las weiter: Deirdre wollte, dass Eoin einen stattlichen Teil des Erlöses aus dem Verkauf des Cottage bekam, um sich um ihre Pferde kümmern zu
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