Liz Balfour
ich.
»Irland hat zu viele Pferde. Die Züchter werden ihren Nachwuchs nicht mehr los. Sie haben keinen Platz für die Tiere. Die besten werden ins Ausland verkauft, aber es sind immer noch zu viele übrig. Sobald ein Pferd zu alt ist, wird es erschossen. Wenn es Glück hat, findet sich jemand, der ihm das Gnadenbrot gibt. Aber wie schon gesagt, Irland hat zu viele Pferde.«
»Und die Tierschutzorganisationen …«
»… sind überfordert. Jeden Tag ruft jemand an und meldet ein herrenloses Tier, das vor Erschöpfung nicht mehr laufen kann, oder den Nachbarn, der sein Pferd misshandelt. Lauter gut meinende Menschen, die sich aber selbst nicht um die Tiere kümmern wollen oder können. Sie geben die Verantwortung an Behörden und Organisationen weiter. Ich fand, dass das nicht reichte.
Deshalb tat ich mich mit ein paar Freunden zusammen und gründete meine eigene Organisation. Wir sind nur ein ganz kleines Team und haben nicht sehr viele Kapazitäten, aber wir tun, was wir können. Wir fangen die Pferde ein, versorgen sie medizinisch, pflegen sie auf meinem Gestüt, zeigen die Besitzer an, sofern wir sie ausfindig machen können. Das bringt zwar nichts, aber wir tun es trotzdem.«
»Wie viele Pferde sind denn bisher ausgesetzt worden? «
»Das weiß keiner so genau. In der Presse war etwas von zwanzigtausend Tieren zu lesen. Vielleicht stimmt das sogar«, sagte er.
Wir fuhren immer weiter ins Landesinnere. Eoins Freunde suchten, wie er mir erklärte, die Küstenstraße ab. Sie waren ein eingespieltes Team und mittlerweile wahre Profis, wenn es darum ging, ängstliche herrenlose Pferde einzufangen.
»Wo sind wir?«, fragte ich, als wir nach einsamer Fahrt endlich wieder an einem Haus vorbeikamen. »Fountainstown? «
»Da sind wir längst dran vorbei. Das hier ist Ballinvarosig. Carrigaline ist nicht mehr weit. Da müssen wir aber erst gar nicht suchen. Es hat viel zu große Angst, um in ein bewohntes Gebiet zu laufen.«
»Ich hab ihm noch mehr Angst gemacht, stimmt’s?«
»Denk nicht drüber nach. Das ist jetzt nicht wichtig.«
Ich hatte mich schon die ganze Zeit wie ein Idiot gefühlt. Jetzt war mir richtig elend zumute. Wie hatte ich diesen Mann so vollkommen falsch einschätzen können? Ich wollte mich ein weiteres Mal für mein dummes Verhalten
entschuldigen, als Eoin die Scheinwerfer ausschaltete und sagte: »Da ist es.«
Der Schimmel stand regungslos im aufgehenden Mondlicht. Im ersten Moment dachte ich: Das ist das Schönste, was ich jemals gesehen habe. Als wir näher an ihn heranrollten, konnte ich deutlich seine Rippen erkennen, und mir fiel wieder ein, wie erschöpft er sein musste. So erschöpft, dass er nicht die Flucht ergriff, obwohl wir immer näher kamen.
»Er wird weglaufen, wenn wir ganz dicht sind, oder?«, fragte ich.
Eoin sagte nichts. Er fixierte den Schimmel mit seinem Blick, dann löste er den Gurt, drehte sich langsam um und holte etwas von der Rückbank.
»Wie willst du ihn einfangen? Betäubst du ihn?« Mittlerweile sprach ich mit gesenkter Stimme, als hätte ich Angst, das bittersüße Bild des mageren Pferds im Mondlicht zu zerstören.
»Die Tiere werden nur dann betäubt, wenn es gar nicht anders geht«, sagte Eoin. »Das Risiko ist hoch, dass sie nicht mehr aufwachen. Die nötige Dosis kann nur geschätzt werden, und das Pferd ist zuvor nicht untersucht worden.«
»Und jetzt?«
»Mal sehen.« Er nahm sein Handy und tippte mit bewundernswerter Schnelligkeit eine SMS.
»Wie, ich dachte, du machst so was dauernd?«
Eoin grinste. »Meistens stehen die Tiere auch einfach auf einer Wiese und lassen sich halbwegs problemlos in den nächsten Anhänger schieben. Nicht alle drehen durch. Du hast da einen etwas einseitigen Eindruck bekommen.
« Er wandte sich mir zu. »Ally, ich habe gerade den anderen Bescheid gesagt. Sie sind unterwegs hierher, aber sie brauchen noch ein paar Minuten. Du passt auf das Handy auf, falls sie sich melden. Egal, was passiert: Du bleibst im Wagen. Eine Verletzung reicht für diese Nacht.«
Das musste er mir kein zweites Mal sagen. Die Schmerzen in meinem Knöchel brachten mich schon bei der kleinsten Bewegung fast um, und ich spürte, wie er immer dicker anschwoll. Aber was hatte Eoin vor? Ich kam nicht mehr dazu, ihn zu fragen. Er war bereits ausgestiegen und hatte die Wagentür leise hinter sich zugedrückt.
»Pass auf dich auf«, sagte ich, auch wenn er mich nicht hören konnte.
Im hellen Mondlicht sah ich, wie er langsam auf das Pferd
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