Liz Balfour
zuging. Der Schimmel bewegte sich nicht. Eoin blieb stehen, sagte etwas, das ich nicht verstand. Das Tier hob den Kopf und sah zu ihm herüber. Eoin sprach weiter mit ihm und kam ihm kaum merklich immer näher. Mir war, als würde es Stunden dauern. Die Anspannung zerrte an meinen Nerven. Ich hatte Angst, der Schimmel könnte jeden Moment weglaufen. Aber er tat es nicht. Er blieb stehen, hielt seinen Kopf gedreht, um nach Eoin zu sehen, schnaubte ein wenig, schüttelte seine Mähne.
Ich erschrak, als Eoins Telefon in meiner Hand vibrierte. »Ja?«, flüsterte ich heiser.
Eine Frauenstimme antwortete: »Eoin?«
»Nein, hier ist Ally …« Was sollte ich sagen, wer ich war? Eine Freundin? Wohl kaum. Eine Bekannte? Ich setzte darauf, dass in dieser Gegend so ziemlich jeder jeden kannte oder zumindest schon mal von jedem gehört hatte.
»Ich bin die Tochter von Deirdre Sullivan, Eoins … Nachbarin.«
»Und wo ist Eoin?«, fragte sie gereizt. »Wir sind mit dem Anhänger in der Nähe vom Treffpunkt, sehen aber noch nichts.«
»Er hat die Autoscheinwerfer ausgeschaltet.«
»Prima. Und kann ich ihn jetzt vielleicht mal sprechen?«
»Ich fürchte, das wäre gerade kein so guter Zeitpunkt. Er ist ausgestiegen und beruhigt das Pferd … denke ich.«
Es raschelte. Offenbar hielt sie das Mikrophon zu. Nach ein paar Sekunden meldete sie sich wieder. »Okay. Seid ihr noch weitergefahren, nachdem er uns die SMS geschrieben hat?«
»Nein.«
»Dann warten wir, wo wir sind, und wenn er alles im Griff hat, soll er sich melden.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Und ich dachte immer, Tierschützer seien nette, sympathische Menschen«, murmelte ich vor mich hin.
Eoin sprach immer noch auf das Tier ein, das nun doch nervös zu werden schien. Und trotzdem rührte es sich nicht von der Stelle. Er machte einen letzten Schritt und war jetzt dem Schimmel so nahe, dass er die Mähne berühren konnte. Mit einer ruhigen Bewegung streckte er die Hand aus und begann, ihm sanft den Hals zu streicheln. Der Schimmel schnaubte und fing an herumzutänzeln. Eoin ließ sich nicht beirren. Er streichelte weiter den Hals des Pferdes, bis es wieder ganz ruhig dastand. Da erst erkannte ich, was er in der anderen Hand hielt: Zaumzeug. Das also hatte er von der Rückbank genommen. Er legte es in einer fließenden, ruhigen Bewegung
dem Schimmel an, drehte sich zu mir und gab mir ein Daumen-hoch-Zeichen.
Ich verstand ihn und suchte in der Rufliste die Nummer heraus, die zuletzt angerufen hatte. Er hatte sie unter »Keera« gespeichert.
»Hallo?«, meldete sich die Frauenstimme, diesmal so freundlich und warm, wie ich es von einer engagierten Tierschützerin mit einem großen Herzen für alle Lebewesen auf diesem Planeten erwartet hätte.
»Hier ist noch mal Ally. Eoin hat den Schimmel eingefangen. «
»Wir kommen.« Ein großes Herz für alle, außer für mich. Ihr stimmliches Repertoire war offenbar auf zwei Tonlagen beschränkt, und für mich war die eisige Variante reserviert. Ich ließ das Fenster ein Stück herunter und sagte gerade laut genug, dass Eoin mich hören konnte: »Sie sind unterwegs. Keera, richtig?«
»Sehr gut, danke«, sagte er und lächelte. »Wie geht es deinem Fuß? Kannst du herkommen? Es ist ein ganz wunderbares Tier. Vielleicht möchtest du ihm Guten Tag sagen?« Er führte den Schimmel zum Auto.
Ich öffnete die Tür und hievte mich vorsichtig vom Sitz. In die klare, kühle Nachtluft mischte sich der Geruch des Pferdes. Als ich auftreten wollte, bekam ich vor Schmerz keine Luft mehr. Der Schimmel bäumte sich wiehernd auf.
»Ruhig!«, sagte Eoin, und ich wusste nicht, ob er mich oder den Schimmel meinte. Wahrscheinlich uns beide. »Ally, bleib sitzen. Er hat deinen Schreck und deinen Schmerz bemerkt, und davon hat er Angst bekommen.« Eoin keuchte, während er versuchte, das Pferd wieder
unter Kontrolle zu bringen. »Alles in Ordnung. Ruhig, mein Guter. Alles gut.« Pferde waren eindeutig nicht meine Domäne. Irgendwie missverstand ich alles, was mit ihnen zu tun hatte. Oder missverstand ich einfach nur alles, was mit Eoin zu tun hatte?
»Die anderen kommen«, sagte er, als er den Schimmel wieder im Griff hatte.
Sie kamen in einem Jeep mit Pferdeanhänger, und ich erkannte, dass eine Frau hinter dem Steuer saß. Das musste Keera sein. Sie parkte hinter Eoins Defender, sprang heraus und machte sich an dem Anhänger zu schaffen. Aus der Beifahrertür kletterte ein Mann mit einer schwarzen Arzttasche. Vermutlich
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