Liz Balfour
Ende des Regenbogens vergraben war, und ich hatte immer gedacht: Wenn es diesen Schatz wirklich gibt, dann ist er hier auf dem Meer. So wie diese Diamantenstraße
stellte ich mir den Schatz am Ende des Regenbogens vor.
Die wütenden Schreie der Möwen, die sich um eine weggeworfene Tüte Fish & Chips stritten, holten mich zurück in die Gegenwart. Eoin ging schweigend neben mir her. Manchmal hob er einen Stein auf und warf ihn ins Wasser, einmal steckte er sich eine schöne Muschel in die Tasche. Er schien so versunken, er merkte nicht, wie beschwerlich es für mich war, mich im Sand fortzubewegen. Die Krücken gruben sich tief ein, und ich wusste, ich würde morgen in den Armen Muskelkater haben wie noch nie in meinem Leben. Der Wind zerzauste mein Haar, und als ich es zurückstrich, fühlte ich, wie verknotet manche Strähnen waren. Ich widerstand dem Impuls, ein Haargummi zu suchen und mir einen Pferdeschwanz zu machen. Schon lange hatte ich nicht mehr mit vom Seewind verknoteten Haarsträhnen zu kämpfen gehabt, und gerade genoss ich es genauso sehr wie den Geschmack von Salz auf meinen Lippen und das Gefühl von Sand in meinen Schuhen.
Eoin kletterte über ein paar mit Algen bewachsene Steine und setzte sich schließlich auf eine größere, flache Stelle, die vollkommen sauber war. Da erst fiel ihm auf, dass ich ihm gar nicht folgen konnte. Er entschuldigte sich hastig, kam zurück zu mir und hob mich hoch. Meine Krücken fielen in den Sand. Erschrocken hielt ich seine Schultern fest umklammert, während er mit mir über die Steine balancierte. Ich hoffte, dass er meinen schnellen Herzschlag nicht bemerkte. Aber ich fühlte seinen, und auch die Wärme seines Körpers, den Geruch seiner Haut …
Auf dem flachen Felsen setzte er mich vorsichtig ab, nahm neben mir Platz, umschlang seine Knie mit den Armen und starrte aufs Meer. Ich folgte seinem Blick und entdeckte am Horizont ein großes weißes Passagierschiff. Es sah aus, als würde es direkt die Diamantenstraße entlang auf uns zufahren.
Als Eoin immer noch nichts sagte, lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Meine Mutter und sein Vater, was für eine seltsame Vorstellung. Andererseits auch wieder nicht so seltsam. Eoin und ich waren jetzt ein paar Jahre älter als die beiden damals während ihrer Beziehung, und sie waren sicherlich genauso leidenschaftlich und ungestüm gewesen wie die meisten in dem Alter. Abgesehen davon, dass ich Deirdre nur allzu gut verstehen konnte – sollte Eoin auch nur ein wenig nach seinem Vater kommen, dann war Martin O’Connor zweifelsohne ein attraktiver, charmanter und humorvoller Mann gewesen, in den sich eine junge, unternehmungslustige Frau leicht verlieben konnte. Aber die Tiefe der Gefühle war es, die mich nachdenklich stimmte. Warum war sie später mit meinem Vater hierhergezogen? Vorher hatte sie in Cork gewohnt. Hatte sie Martins Nähe gesucht? War die Beziehung auch nach ihrer Hochzeit weitergegangen? Gab es also doch noch eine Möglichkeit, dass ich Martins Kind, Eoins Halbschwester war? In einer Sache konnte ich mir wohl jetzt schon sicher sein: Meinen Vater Colin hatte sie nie so sehr geliebt wie Martin. Es fühlte sich wie Verrat an, mit Eltern aufgewachsen zu sein, die sich nicht so liebten, wie man es sich als Kind wünschte. Oder vielmehr: erwartete. Waren die zwölf Jahre Kindheit in Emerald Cottage wirklich nur auf Lügen und Geheimnissen aufgebaut?
Vielleicht war es wirklich das Beste, Emerald Cottage zu verkaufen. Vielleicht war es wirklich Deirdres Wunsch, alles hinter sich zu lassen und in die Stadt zu ziehen, wo sie gelebt hatte, als sie noch jung und unabhängig war. Vielleicht war Emerald Cottage für sie so eine Art »Wuthering Heights«, ein magischer, düsterer Ort, von dem sie nicht loskam, der ihr aber kein Glück gebracht hatte. Ich konnte sie nicht fragen, und vielleicht würde ich nie erfahren, was meine Mutter in ihrem Inneren bewegte. Wenn sie also verfügt hatte, dass das Cottage verkauft werden sollte – wer war ich, mich ihr in den Weg zu stellen? Was hatte ich schon mit dem Cottage zu tun?
»Erzähl mir von deinem Vater«, hörte ich mich zu Eoin sagen.
Erst dachte ich, er würde nie antworten. Oder hatte der Wind meine Worte weggetragen, bevor sie zu ihm drangen? Aber endlich drehte er den Kopf zu mir und sah mich traurig an.
»Er ging, als ich vier Jahre alt war«, sagte er. »Ich kann mich also kaum an ihn erinnern. Alles, was ich über ihn weiß, habe ich von meiner
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