Lizenz zum Kuessen
sich auf der Bühne in eine Zahlen dreschende, vor Energie nur so sprühende Busi - nessfrau verwandelt. Mrs Merrivel auf der Bühne war Carrie Mae, die Firma. Mrs Merrivel auf der Bühne war ein General in Pumps und blauem Kostüm.
Am Anfang hatte Nikki noch interessiert zugehört, da Mrs Merrivels Begeisterung und ihr offensichtlicher Glaube an die Firma ansteckend waren. Ihr hatte die Vorstellung einer ausschließlich von Frauen geführten Organisation gefallen, aber wie sich dann herausstellen sollte, war Carrie Mae auch nicht anders als andere Unternehmen - in mancher Hinsicht sogar schlimmer, weil das eigentliche Geld nicht durch den Verkauf von Kosmetik verdient wurde, sondern durch die Anwerbung neuer Verkäuferinnen. Das klassische Schneeballsystem also, garniert mit ein bisschen Lebenshilfe-Philosophie für Frauen und einer gemeinnützigen Stiftung.
Allem Anschein nach spontaner Beifall riss Nikki aus ihren Gedanken - gerade noch rechtzeitig, um Mrs Merrivels abschließende Betrachtungen zu hören. Nikki vermutete ja stark, dass eine der über den Saal verteilten Carrie-Mae-Damen den Applaus begonnen hatte, aber Mrs Merrivel
brachte das Publikum mit sanfter Hand zum Schweigen, als halte sie die Begeisterung für echt.
»Heute Abend haben wir sogar noch eine ganz besondere Überraschung für Sie. Heute Abend wird eine von Ihnen, meine Damen, mit etwas Glück ihre eigene kostenlose Erstausstattung gewinnen!« Durch das Publikum ging ein beglücktes Raunen, und Mrs Merrivel ließ ihren gütigen Blick über die Menge schweifen, ehe sie weitersprach. »Im Saal sehen Sie etliche unserer Carrie-Mae-Damen an verschiedenen Ständen bereitstehen. Scheuen Sie sich nicht, sich mit Ihren Fragen an sie zu wenden. Außerdem können Sie unsere Produktproben ausprobieren, und jede der Damen ist Ihnen gern dabei behilflich, den Antrag für Ihr persönliches Starterkit auszufüllen.«
Donnernder Applaus brach aus. Wieder lächelte Mrs Merrivel und verbeugte sich leicht. Lächelnd und winkend ging sie langsam von der Bühne. Nikki fühlte sich an das triumphale Schaulaufen einer frisch gekürten Schönheitskönigin erinnert. Fehlten nur noch die Freudentränen und das Krönchen.
Jetzte meldete sich wieder die Dicke mit den hohen Absätzen zu Wort. »Mrs Merrivel wird nun an dem Tisch vor der Bühne Platz nehmen, um Fragen zu beantworten und ihren Ratgeber Arbeit mit Maß macht Spaß zu signieren, den Sie für zehn kanadische Dollar erwerben können. Wenn Sie an der Verlosung für das Starterkit teilnehmen möchten, sprechen Sie bitte eine der Damen im Saal an. Wir sind Ihnen alle gern behilflich.«
Nikki hätte fast lauthals gelacht. An dieser Verlosung würde sie ganz gewiss nicht teilnehmen. Niemals würde sie für Carrie Mae arbeiten. Nachdem das geklärt war, stand sie auf, strich ihren Rock glatt, hob ihre Handtasche vom Boden
auf und wandte sich erwartungsvoll an ihre Mutter. Die Rede war vorbei. Zeit zu gehen.
»War sie nicht wunderbar?«, fragte Nell ganz aufgeregt.
Nikki ahnte Schlimmes - diesen Ausdruck in den Augen ihrer Mutter kannte sie.
»Sie ist eine sehr gute Rednerin«, erwiderte Nikki unverbindlich.
»Sie ist ein sehr guter Mensch«, fand Nell, die entschlossen schien, Nikkis Gleichgültigkeit zu ignorieren. »Ich würde mich gern an einigen dieser Stände umsehen. Sei so lieb und besorge mir schon mal eins ihrer Bücher.« Nell zückte einen Zehndollarschein. Nikki zögerte, nahm ihn dann widerwillig entgegen. Es war besser, sich nicht mit ihrer Mutter zu streiten: Sie mussten morgen noch zusammen nach Hause fahren.
»Und sieh zu, dass du ein signiertes Exemplar bekommst!«, rief Nell ihr hinterher, als Nikki davontrottete.
Als sie sich für Mrs Merrivels Buch anstellte und sich umschaute, fiel ihr auf, dass sie die Einzige war, die allein in der Schlange stand. Das war ihr ein bisschen peinlich, weil es so aussah, als hätte man noch jemanden mitbringen müssen, um überhaupt hier sein zu dürfen. Außerdem kam sie sich ein bisschen overdressed vor. Vielleicht waren die zur Handtasche passenden Schuhe doch zu viel des Guten gewesen. Das Resultat war auf jeden Fall zu schick und perfekt, und sie fühlte sich inmitten der leger gekleideten Mütter, Töchter und Freundinnen unwohl.
Um auf andere Gedanken zu kommen und sich von den anderen abzugrenzen, verlegte sie sich auf Beobachtung. Die Frau vor Nikki unterhielt sich angeregt in kanadischem Französisch mit einer jungen Frau mit aschblondem
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