Lizenz zum Kuessen

dass ihr kein Detail ihres Lebens entgangen war.
    »Wie viele Sprachen sprichst du?«, wollte Mrs Merrivel wissen und ließ den Stift über der leeren Seite schweben.
    »Vier. Na ja, fünf, wenn man Latein mitzählt.« Nikki wünschte sich, dass die Unterhaltung damit beendet und Mrs Merrivel endlich dieses dämliche Buch signieren würde.
    »Ah, Latein. Wegen Latein wäre ich beinahe durchgefallen, aber ich weiß zu schätzen, wenn jemand es noch kann -
obwohl ich ja finde, dass es irgendwie wie falsches Spanisch aussieht.«
    »Alle romanischen Sprachen sind sich recht ähnlich«, stimmte Nikki zu. »Wenn man aus Kalifornien kommt, denkt man natürlich zuerst an Spanisch.«
    Mrs Merrivel blinzelte kurz, dann lächelte sie. »Du hast Recht, ich komme aus Kalifornien«, sagte sie. »Aber wenn mich nicht alles täuscht, hatte ich das nicht erwähnt, oder?«
    »Sie verwenden einige typisch kalifornische Sprachmuster«, klärte Nikki sie auf und freute sich, endlich einmal die Oberhand gewonnen zu haben.
    »Wie spannend. Du bist ja ein richtiger Henry Higgins«, meinte Mrs Merrivel. Nikki zuckte kurz zusammen. Linguisten reagierten ein bisschen allergisch auf alles, was mit My Fair Lady zusammenhing. Sie schaute sich um und wünschte, sie könnte sich endlich das dumme Buch schnappen und verschwinden. Die Dame an der Kasse schien ganz ihrer Meinung zu sein, denn sie räusperte sich höflich und warf einen vielsagenden Blick auf die lange Schlange ungeduldig wartender Frauen.
    »So, Nikki, das hätten wir.« Mrs Merrivel klappte das Buch zu und reichte es ihr. »Viel Glück. Ich hoffe sehr, dass du das Starterkit gewinnst.«
    Nikki lächelte verlegen und nahm das Buch entgegen.
    Nachdem sie eine Weile durch den Saal geirrt war, fand sie ihre Mutter endlich. Nell war in ein Gespräch über Lippenstiftfarben vertieft. Nikki stand geduldig wartend daneben und sah zu, wie ihre Mutter die Carrie-Mae-Dame schließlich dazu nötigte, einen abgelaufenen Gutschein anzunehmen.
    »Ich habe dich für die Verlosung des Starterkits eingetragen«, sagte Nell zu Nikki, als sie den Stand endlich verließen. Vor Schreck wäre Nikki fast gestolpert.

    »Ich will das Starterkit nicht, Mom«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.
    »Unsinn«, sagte Nell. »Du hast diesen Job nicht bekommen, und von irgendwas musst du ja leben. Mit Nachhilfe und Zeitarbeit kannst du deine Rechnungen auf Dauer nicht bezahlen. Und bei Carrie Mae kannst du richtig Karriere machen.«
    »Wie kommst du darauf, dass ich den Job nicht bekommen habe?«, fragte Nikki beleidigt.
    »Weil du es mir schon längst erzählt hättest, wenn das Vorstellungsgespräch gut gelaufen wäre.« Nikki wäre am liebsten im Boden versunken. Ihre Mutter hatte sie durchschaut. »Nach einem Linguisten-Job kannst du ja immer noch schauen, aber bis du da was findest, machst du erst mal das hier. Kosmetik verkaufen ist ein Kinderspiel. Eine Freundin von mir macht dasselbe - nur mit Kerzen -, und sie verdient supergut damit.«
    »Ich will keine Kosmetik verkaufen«, sagte Nikki. Ihre Stimme klang fast weinerlich, was ihrer Mutter zum Glück nicht aufzufallen schien. Mit einem schnellen Blick durch den Saal kalkulierte Nikki, dass ihre Chancen auf einen Gewinn 1:300 standen. Damit konnte sie leben.
    Sie folgte ihrer Mutter von Stand zu Stand, staubte Proben ab und trug Nells Einkäufe. Fast waren sie durch, als ein Gong das muntere Stimmengewirr übertönte.
    »So, meine Damen«, rief eine fröhliche Carrie-Mae-Dame von der Bühne. »Gleich ist es so weit, dann wird das Starterkit verlost!« Die Menge im Saal wurde von Aufregung erfasst, und die Carrie-Mae-Dame versuchte lächelnd, sich Gehör zu verschaffen. »Wenn Sie sich bitte alle in einem Halbkreis vor der Bühne einfinden würden, dann werde ich Mrs Merrivel sofort bitten, die Lostrommel zu drehen. Sie haben doch alle Ihre Lose parat, oder?«

    Nicken, Gemurmel und hektische Betriebsamkeit im Publikum. Nell zückte einen blauen Losabschnitt und gab ihn Nikki. Über den beachtlichen Stapel von Carrie-Mae-Produkten in ihren Armen warf Nikki einen kurzen Blick auf das Los. Es hatte Nummer 91724. Darunter hatte Nell mit hektischer Handschrift Nikkis Namen und Telefonnummer eingetragen.
    »Ja, komm schon, Nummer 82563«, murmelte Nikki und sprach ein kurzes Stoßgebet.
    »Das ist nicht unsere Nummer«, zischte Nell.
    »Muss ich mich verlesen haben«, murmelte Nikki.
    Mrs Merrivel drehte die Lostrommel, und die blauen Lose