Lizenz zum Töten: Die Mordkommandos der Geheimdienste (German Edition)
seinem Notizbuch legte er nicht nur weite Teile der DDR-Spionage in der Bundesrepublik, Österreich und Frankreich lahm, weil Agenten verhaftet wurden oder auf schnellstem Wege zurückgerufen werden mussten, sein Frontwechsel bedeutete vor allem eine Schmach für das MfS und die SED-Spitze. 1981 begann Stiller ein Leben mit neuer Identität, machte nach einem Wirtschaftsstudium im amerikanischen St. Louis Karriere als Investmentbanker in New York und London. Bis zum Ende der DDR versuchte eine bestens ausgestattete Gruppe von Zielfahndern der Stasi, Stiller ausfindig zu machen und zu töten. Vergeblich.
Es gibt weitere Todesfälle, bei denen bis heute unklar ist, ob Mordkommandos der Staatssicherheit beteiligt waren oder nicht: den des SED-Kritikers Bernd Moldenhauer, der im Juli 1980 von einem Busfahrer und IM der Stasi erdrosselt wurde (ein MfS-Mordauftrag ist hier eher unwahrscheinlich); der Tod des Fluchthelfers Kay Mierendorff, der 1982 durch eine Briefbombe schwer verletzt wurde und dessen Ehefrau, die ebenfalls betroffen war, an den Spätfolgen verstarb (Stasi-Beteiligung denkbar); der Tod des Fußballers Lutz Eigendorf, der sich 1979 in den Westen abgesetzt hatte und im März 1983 bei einem Autounfall ums Leben kam (Stasi-Beteiligung eher unwahrscheinlich).
Als der am besten dokumentierte Fall gilt der von Wolfgang Welsch, jenem Fluchthelfer, dessen Todesurteil im Mai 1980 von Erich Mielke persönlich abgesegnet worden war. Was für ein Leben: Der 1944 in Berlin geborene Welsch absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Schauspieler in der DDR, wurde nach einem misslungen Fluchtversuch 1964 zu zwei Jahren Haft verurteilt, arbeitete nach seiner Entlassung als Assistent bei der DEFA und plante mit zwei Freunden einen Dokumentarfilm gegen das SED-Regime; er wurde verraten und erneut ins Gefängnis gesteckt, diesmal wegen Hochverrats für fünf Jahre. 1971 zählte Welsch zu den politischen Häftlingen, die auf Initiative von Willy Brandt freigekauft wurden; er studierte Politikwissenschaften an der Universität Gießen, promovierte in England, begann zeitgleich mit dem Aufbau einer Organisation, die am Ende insgesamt zweihundert DDR-Bürgern zur Flucht aus der DDR verhelfen sollte, vornehmlich Akademikern, um dem SED-Staat möglichst großen Schaden zuzufügen. Durch seine Aktivitäten geriet er erneut ins Visier der Staatssicherheit, die einen Vorgang anlegte, Mordpläne ersann und 1978 bei einem Ferienaufenthalt in Griechenland »IMF Alfons« als Zufallsbekanntschaft an ihn »heranspielte«: Peter Haack. Es handelte sich um eine nachrichtendienstliche Meisterleistung, denn mit Haack sollte ein »inoffizieller Mitarbeiter der inneren Abwehr mit Feindverbindungen zum Operationsgebiet«, wie das in der Stasi-Terminologie hieß, zum besten Freund der Zielperson Wolfgang Welsch werden. Des Opfers.
Mehr als ein Jahr später: Wolfgang Welsch und Peter Haack sind auf dem Weg nach England. Sie haben in Mannheim einen Mercedes Kastenwagen von Hertz gemietet, um in der Grafschaft Kent, in der Nähe von Canterbury, bei einer alten Dame günstig Antiquitäten einzukaufen. Vorher wollen sie noch zum Sightseeing nach London, wo Haack eine kleine Wohnung hat. Sie nehmen die Autobahn Richtung Nordfrankreich, um mit der Fähre von Calais überzusetzen: »Am Terminal zur Englandfähre mussten wir etwa eine Stunde warten. Peter verschwand und tauchte erst nach einer halben Stunde wieder auf«, erinnert sich Welsch, und weiter: »Er habe etwas gegessen, erklärte er mir … Gegen fünfzehn Uhr kamen wir in Dover an und waren wenig später auf der Autobahn M 2 in Richtung London.«
An das Opfer »herangespielt«: Auf einem Campingplatz in Griechenland lernte Wolfgang Welsch (rechts) wie zufällig Peter Haack kennen, der für das MfS arbeitete.
Kurz vor der Reise hat sich Haack in Ost-Berlin mit MfS-Generalmajor Fiedler getroffen und ist mit ihm und seinen Leuten die Alternativen eines Mordanschlags durchgegangen. Die Idee eines Bombenanschlags bei einem erneuten Urlaub in Griechenland wird diskutiert und wieder verworfen. Fiedler bringt einen Scharfschützen ins Spiel, und plötzlich ergibt ein Wort das andere. Haack bietet an, seinenFreund nach England zu locken, dort ergebe sich auf der M 2 doch sicherlich eine Möglichkeit. Er erschrickt kurz über den eigenen Vorschlag, dass Welsch hinter dem Steuer erschossen werden soll, doch Fiedler hat bereits zustimmend genickt. Das scheint ihm ein guter Plan, falls HVA-Chef Markus
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