Lizenz zur Zufriedenheit
irgendwann im Sommer 2008. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich mitten in der empirischen Datenerhebungsphase für meine Doktorarbeit an einem Lehrstuhl für Controlling einer renommierten privaten Business School. Diese Doktorarbeit hatte inhaltlich nichts, aber auch gar nichts mit der Studie gemeinsam, deren Ergebnisse Sie in diesem Buch nachvollziehen können. Ich habe dieses Projekt (also Vigor ) im Grunde aus der gleichen Gefühlslage eines schlechten Gewissens heraus begonnen, die uns die Wohnung aufräumen oder bügeln lässt, wenn wir eigentlich ganz dringend die Steuererklärung machen müssten. Nun fragen Sie sich sicher zu Recht: Was macht ein an Positiver Psychologie und Coaching interessierter Mensch an einem Lehrstuhl für Controlling einer elitären Business School? Die Antwort: Ich weiß es (heute) selbst nicht mehr so genau. Jedenfalls erscheinen mir alle Gründe, die ich mir in der Rückschau vage zusammenreimen kann, als sehr bedenklich:
Weder war es mein sehnlichster Wunsch, jemals im Bereich Controlling zu arbeiten; das Thema interessiert mich bis heute nicht besonders. Ich erinnere mich, dass es mir damals wichtig war, Karriere zu machen – und da könne ein Doktortitel von einer Elite-Uni bestimmt nicht schaden, habe ich mir wohl gedacht.
Noch war es offensichtlich das Ziel meines inneren Teile-Konsortiums, mich diese Arbeit schreiben zu lassen. Sonst hätten die tonangebenden Instanzen wohl kaum dafür gesorgt, dass ich häufiger mehrmonatige Pausen einlegte, um mich stattdessen in die Weisheiten Buddhas und ähnliche Literatur zu vertiefen – oder gleich ein komplett anderes Forschungsvorhaben zu beginnen.
Auch meine Lizenz zur Zufriedenheit habe ich durch diese Arbeit nicht bekommen. Ganz im Gegenteil: Ich habe sie erst bekommen (zumindest in Teilen), als mir meine Eltern die „Erlaubnis zum Aufhören“ erteilten. Mir ist heute klarer denn je, dass ich diese Doktorarbeit auch und vor allem „für meine Eltern“ geschrieben habe. Für mich gab es da immer eine gefühlte, wenn auch unausgesprochene Erwartungshaltung. Wie viele Kinder, deren Eltern noch im Nachkriegsklima aufgewachsen sind, habe ich häufiger den Satz gehört: „Du sollst es mal besser haben als wir!“ Je nachdem, wie man den Modaloperator „sollen“ auffasst, versteht sich dieser Satz als ein aus Liebe ausgesprochener Wunsch – oder aber als eine unmissverständliche Aufforderung , welche implizit die Frage nach sich zieht: „Und was ist, wenn ich es nicht schaffe?“ Diesen Druck habe ich immerzu gespürt: Wenn ich an der Arbeit schrieb und umso mehr, wenn ich es nicht tat. Trotzdem schien es mir an vielen quälenden Tagen unendlich schwierig, auch nur das entsprechende Dokument auf meinem Rechner zu öffnen. Etwa im Jahresrhythmus der insgesamt etwa 55 Monate hatte ich den unbändigen Wunsch, die Doktorarbeit ad acta zu legen. Was mich dann doch immer wieder bewog, weiterzumachen: Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen. Und: Ich wollte keiner sein, „der es nicht gepackt hat“. Ein knappes Jahr vor dem Ende fand ein (auf beiden Seiten) ziemlich tränenreiches, etwa dreistündiges Gespräch zwischen meinen Eltern und mir statt, in dem sie mir schließlich die „Lizenz zum Aufhören“ gaben: Sie versicherten mir (und ich verstand!): Auch ohne Doktortitel würde ich ein „guter Sohn“ bleiben. Danach war die Arbeit in null Komma nichts fertig geschrieben.
Kontrastierend muss ich meine Fähigkeit, mich auf die wirklich wichtigen Dinge in meinem Leben zu konzentrieren – wenn auch etwas augenzwinkernd –, sehr lobend erwähnen. Ich habe schließlich die Ressourcen aufgebracht, die Doktorarbeit zu vollenden, ohne von jenem Thema Abstand zu nehmen, das mich wirklich antreibt. Jedoch geschah diese Steuerung weitaus „bewusstloser“, als es nun, in der Rückschau aufgeschrieben, anmuten mag.
Bleibt schließlich das Thema Durchhaltevermögen. Heute ist mir klar: Sich für ein Ziel über Gebühr quälen zu müssen ist ein sicherer Indikator und gleichzeitig der Preis dafür, sich einer falschen Sache verschrieben zu haben – einem Streben, das jenseits der eigenen Talente und Neigungen liegt. Im Ergebnis weiß ich heute, dass ich offenbar in der Lage bin, mich weit über meine psychische Schmerzgrenze hinaus anzutreiben, vorausgesetzt das Schreckgespenst, die Furcht vor dem Scheitern, ist gruselig genug. Wofür auch immer das gut ist – ich werde es nie wieder so weit kommen lassen. 352
Damit Sie mich bitte
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