Lob der Faulheit
mehr etwas tun würde, wenn alle faul wären. Dass diese These nicht stimmt, können Sie in einem Gedankenexperiment selbst feststellen: Nehmen wir einmal an, Sie müssten nicht mehr arbeiten. Das klingt im ersten Moment bestimmt großartig. Aber nun stellen Sie sich bitte vor, Sie hätten überhaupt keine Ziele mehr und gar nichts mehr zu tun. Absolut nichts, nicht mal mehr fernsehen oder lesen. Nur noch im Bett liegen. Für immer. Wie lange würde es dauern, bis Ihnen die Decke auf den Kopf fällt?
Der japanische Arzt Shoma Morita hat vor 100 Jahren eine Therapie entwickelt, die auf Arbeitsentzug basierte. Neurotiker, die unter den unterschiedlichsten Symptomen litten, wurden zunächst vollkommen ruhiggestellt. Sie durften nur im Bett liegen, ohne jede Ablenkung. Danach waren sie froh, nach und nach wieder kleine und schließlich größere Aufgaben zu bekommen.
Menschen brauchen Ziele. Den meisten ist die Vorstellung, unbegrenzt frei zu haben, unangenehm. Sie wollen etwas tun. Weshalb wären Arbeitslosigkeit und Pensionierung sonst oft so gefürchtet? Nur wer schwer depressiv ist, stellt alle Aktivitäten ein. Niemand betrachtet das als etwas Positives.
Deshalb ist die Vorstellung, Faulheit würde dazu führen, dass niemand mehr etwas macht, abwegig. Gleich nach dem Argument, wenn alle faul wären, bliebe alles liegen, kommt der Einwand, dass nur noch die angenehmen Dinge getan würden. Das Unangenehme würde niemand mehr erledigen wollen.
Diese Kritik verkennt, wie unterschiedlich Menschen sind. Meist kommt sie von Intellektuellen, die befürchten, dass körperliche Arbeiten sofort eingestellt würden, wenn keiner mehr arbeiten müsste. Sie glauben, nur Denken sei schön. Aber nicht alle teilen ihre Vorliebe.
Jeder hat seine Präferenzen, macht einiges lieber als anderes. Aus diesem Grund ist die Arbeitsteilung entstanden. Solange jeder das tun darf, was er besonders gern macht und gut kann, funktioniert das Zusammenspiel. Die Probleme beginnen, wenn Menschen Aufgaben ausführen sollen, für die sie nicht geschaffen sind.
Der amerikanische Psychologe Donald O. Clifton hat sich dazu eine hübsche Geschichte ausgedacht. In der Parabel »Let the rabbits run« beschließen eine Ente, ein Fisch, eine Eule, ein Adler, ein Eichhörnchen und ein Hase, eine Schule zu gründen. Auf dem Lehrplan stehen: Rennen, Schwimmen, Fliegen, Baumklettern und Springen. Am ersten Tag darf der Hase rennen. Er ist richtig gut. Die Schule macht ihm Spaß. Aber am zweiten Tag steht Schwimmen auf dem Programm. Das mag er nicht. Doch der Lehrer sagt: »In fünf Jahren wirst du wissen, dass es gut für dich ist.« Baumklettern kann der Hase so einigermaßen, wenn der Stamm geneigt wird. Springen geht wieder gut. Aber mit dem Fliegen hat der Hase ein echtes Problem. Der Lehrer macht ihm Mut. Wenn er hart an sich arbeite, werde er es schon schaffen. Als dann wieder Schwimmen auf dem Stundenplan steht, vergeht dem Hasen die Lust an der Schule. Die Lehrer drohen ihm mit Rauswurf, wenn er sich weigert. Sie führen ihm vor Augen, was passiert, wenn er die Schule ohne Abschluss verlässt.
Den anderen Tieren geht es nicht besser. Auch sie müssen Disziplinen üben, die sie nicht oder nur schlecht können. Zum Schluss sagt die weise Eule dem Hasen, dass das Leben nicht so sein müsste. Es könnte Schulen und Arbeitsplätze geben, wo jeder das tun könne, was ihm liegt. Der Hase denkt: »Was wäre das für eine schöne Welt!«
Donald Clifton hat sich sein Leben lang dafür eingesetzt, dass Menschen ihre Stärken entdecken und entwickeln. Er wollte, dass die negative Beurteilung der Schwächen aufhört. Wie oft hat jeder von uns in der Schule Kritik einstecken müssen in Fächern, für die man nicht gemacht war? Das setzt das Selbstvertrauen und die Würde systematisch herab. Im Berufsleben setzt sich die negative Entwicklung fort. Nur im Glücksfall landen die Menschen in Positionen, die sie wirklich wollen und können.
Um die Absurdität dieses Ausbildungs- und Berufssystems komplett zu machen, kritisieren viele Eltern, LehrerInnen und ArbeitgeberInnen dann auch noch die mangelnde Motivation der Betroffenen. Sie sollten sich lieber fragen, warum ein Hase fliegen, schwimmen und auf Bäume klettern soll. Zu ihrer Entschuldigung sollte man vielleicht anfügen, dass die Mängel vor allem im System liegen. Einzelne LehrerInnen und Eltern können sich ihm schwer entziehen, selbst wenn sie den Unsinn des Ganzen
Weitere Kostenlose Bücher