Lobgesang auf Leibowitz
der Richtung der fernen Abtei drangen drei Glockenschläge durch die Wüste zu ihm her, dann, nach einer kurzen Stille, folgten ihnen neun weitere.
»Angelus Domini nuntiavit Mariae«, erwiderte pflichtschuldig der Novize und blickte auf, um mit Erstaunen zu bemerken, daß die Sonne schon als breite scharlachrote Ellipse den Horizont berührte. Der Felswall um seinen Bau herum war noch nicht fertig.
Sobald der Angelus gebetet war, verstaute er die Papiere wieder in der alten, rostigen Schachtel. Ein Ruf des Himmels mußte nicht notwendigerweise auch die Gnadenmittel umfassen, wilde Tiere besiegen oder sich in Liebe hungrigen Wölfen nähern zu können.
Bis die Dämmerung erloschen war und die ersten Sterne aufleuchteten, war sein Behelfsbau bewehrt, so gut es nur ging. Ob er wirklich vor Wölfen schützen konnte, würde noch zu erproben sein. Die Erprobung würde nicht allzulang auf sich warten lassen. Von Westen hatte er schon leises Geheul gehört. Er zündete sein Feuer wieder an, aber außerhalb des Feuerscheins war es schon nicht mehr hell genug, ihm die tägliche Ernte purpurner Kaktusfrüchte zu erlauben – seine einzige Nahrungsquelle bis auf sonntags, wenn von der Abtei einige Handvoll gedörrter Mais geschickt wurden, wenn ein Priester mit dem heiligen Sakrament seine Runde gemacht hatte. Der Buchstabe der Vorschriften für eine Berufungsvigilie in der Fastenzeit war nicht so streng wie ihre tatsächliche Anwendung. Wie sie angewandt wurden, liefen die Vorschriften auf nichts anderes als auf den Hungertod hinaus.
Auf jeden Fall war heute nacht für Francis das Nagen des Hungers weniger lästig als sein ungeduldiger Drang, zur Abtei zurückzulaufen. Das zu tun hieße, sich von der Berufung in dem Augenblick loszusagen, da er sie erhalten hatte, denn er war für die Dauer der Fastenzeit hier, berufen oder nicht berufen, seine Wachen fortzusetzen, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen sei.
Er saß neben dem Feuer, starrte verträumt in Richtung des »Schutzbunkers bei radioaktivem Niederschlag« und versuchte sich vorzustellen, wie dort eine gewaltige Basilika aufragen würde. Die Träumerei war angenehm, doch war es schwer, sich zu denken, daß jemand diesen abgelegenen Wüstenstrich zum Mittelpunkt einer zukünftigen Diözese erwählen würde. Wenn also keine Basilika, dann wenigstens eine kleine Kirche – Zu Sankt Leibowitz in der Wüste –, von Garten und Mauer umgeben, mit einem Reliquienschrein des Heiligen, der Ströme von Pilgern mit gegürteten Lenden aus dem Norden anlocken würde. »Pater« Francis von Utah nahm die Pilger auf eine Führung durch die Ruinen mit, sogar durch LUKE ZWEI hindurch bis in die Herrlichkeit des ABGEDICHTETEN BEREICHS hinunter, die Katakomben der Feuerflut, wo… wo… na ja, danach würde er eine Messe für sie zelebrieren, auf dem Altar, in den eine Reliquie des Namenspatrons der Kirche eingeschlossen war. Ein Stückchen grober Leinwand? Fasern der Henkersschlinge? Schnitzel von Fingernägeln aus der Tiefe der rostigen Schachtel? Oder vielleicht WETTSCHEIN? – Die Luftschlösser lösten sich auf. Die Aussichten, daß Bruder Francis Priester werden würde, waren gering. Die Brüder des Leibowitz waren kein Missionsorden und benötigten nur für die Abtei selbst und einige wenige Mönchsgemeinschaften anderswo eine hinlängliche Anzahl Priester. Ganz abgesehen davon war ja noch immer der »Heilige« offiziell bloß ein Seliger und würde nie heiliggesprochen werden, wenn er nicht noch einige saubere, solide Wunder bewirkte, um seine eigene Seligsprechung zu bestätigen. Schließlich war sie ja keine unwiderrufliche Anerkennung wie die Heiligsprechung, gestattete aber den Mönchen vom Orden des Leibowitz, außerhalb von Messe und Offizium ihren Gründer und Patron zu verehren. Das Ausmaß der Traumkirche schrumpfte bis zur Größe einer Kapelle am Wegesrand, der Strom der Pilger wurde zum dünnen Rinnsal. New Rome war mit anderen Dingen beschäftigt. So mit der Eingabe um eine ausdrückliche Entscheidung zur Frage der übernatürlichen Eigenschaften der Heiligen Jungfrau. Die Dominikaner waren nicht nur der Ansicht, daß die Unbefleckte Empfängnis heiligmachende Gnade mit einschloß, sondern auch, daß die Mutter Gottes jene übernatürlichen Kräfte besessen hatte, die Eva vor dem Sündenfall eigen gewesen waren. Einige Theologen anderer Orden erkannten zwar dieser Konjektur Frömmigkeit zu, widersprachen aber, daß das nicht notwendigerweise der Fall sein
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