Lobgesang auf Leibowitz
wäre Ihrer Meinung nach ein guter Vater?« oder »Welche Person möchten Sie am liebsten nicht treffen?« oder »Wer von diesen ist ein Krimineller?« Auf den Fotos, die als »am liebsten« oder »am liebsten nicht« bezeichnet wurden, wählte man eine Serie von »durchschnittlichen Gesichtern aus«, die von Computern aus den Massentests entwickelt worden waren und von denen jedes auf den ersten Blick ein Persönlichkeitsbild im Betrachter hervorrief.
Diese Statue, bemerkte Zerchi mit Widerwillen, wies eine deutliche Ähnlichkeit auf mit jenen außerordentlich weibischen Bildnissen, durch die mittelmäßige oder untermittelmäßige Künstler traditionsgemäß und falsch die Person Christi darzustellen pflegten. Ein süßlich-schmerzliches Antlitz, leere, schimmernde Augen, feuchte Lippen, die Arme weit ausgebreitet in einer Geste der Umarmung. Die Hüften waren breit wie die einer Frau, die Brust ließ einen Busen ahnen – es sei denn, es waren nur die Falten der Kleidung. Guter Gott von Golgatha, keuchte Abt Zerchi in sich hinein, stellt sich die Plebs DICH so vor? Wenn er sich Mühe gab, konnte er sich vorstellen, daß die Statue sagte: »Lasset die kleinen Kindlein zu mir kommen.« Doch er konnte sich nicht vorstellen, daß sie sagte: »Weichet von mir ins ewige Feuer, ihr Verfluchten!« Oder daß sie gar die Geldwechsler aus dem Tempel jagte… Welche Fragen, dachte Zerchi, müssen die ihren Testpersonen gestellt haben, damit dieses Konglomerat von einem Gesicht herauskam? Nun, es war ja nur insgeheim ein »Christus«, denn auf dem Sockel stand: TROST. Aber natürlich hatten die Leute vom Grünstern erkannt, wie ähnlich die Statue dem traditionellen hübschen Christus der miesen Bildhauer war. Doch sie luden sie auf einen Lastwagen und banden eine rote Flagge an ihre große Zehe, und die beabsichtigte Ähnlichkeit würde schwer zu beweisen sein.
Das Mädchen hielt mit einer Hand den Türgriff fest; sie schielte nach den Kontrollapparaturen des Wagens. Zerchi wählte rasch: SCHNELLSPUR. Der Wagen schoß wieder voran. Das Mädchen nahm die Hand vom Türgriff.
»Ne ganze Menge Geier heute«, sagte Zerchi ruhig und schaute zum Fenster hinaus in den Himmel.
Das Mädchen saß da, ohne eine Muskel im Gesicht zu bewegen. Er schaute sich dieses Gesicht eine Weile an. »Haben Sie Schmerzen, meine Tochter?«
»Das macht nichts.«
»Bieten Sie sie dem Himmel als Opfer an, Kind.«
Sie blickte ihn kalt an. »Glauben Sie, daß Gott Freude daran hat?«
»Wenn Sie sie ihm darbringen, ja.«
»Ich kann einen Gott nicht verstehen, dem die Schmerzen meines Kindes Freude machen!«
Der Priester zuckte zusammen. »Aber nein, nicht doch! Es ist nicht der Schmerz, der Gott gefällt, mein Kind! Es ist die Festigkeit der Seele in Glaube, Hoffnung und Liebe trotz der körperlichen Leiden, die dem Himmel gefällt. Schmerz ist wie eine negative Versuchung. Gott hat keinen Gefallen an den Versuchungen des Fleisches. Er hat Gefallen daran, wenn die Seele sich über die Versuchung erhebt und sagt: Hinweg mit dir, Satan! Und so ist es auch mit dem Schmerz, der oft eine Versuchung ist, zu verzweifeln, zornig zu sein, den Glauben zu verlieren…«
»Sparen Sie sich Ihre Worte, Vater. Ich beklage mich nicht. Das Kleine klagt. Aber das Kleine versteht Ihre Predigt nicht. Aber sie kann Schmerzen erleiden, das kann sie. Sie kann Schmerzen fühlen, aber sie kann nicht verstehen, warum.«
Was kann ich dazu sagen? dachte der Prister stumpf. Ihr wieder erklären, daß der Mensch einstmals übernatürliche Unempfindlichkeit gegen Schmerz besaß, sie aber im Paradies weggeworfen hat? Daß das kleine Mädchen eine Zelle von Adam ist und deshalb… Es war die Wahrheit, doch die Frau hatte ein krankes Kind, und sie war selber krank und würde ihm nicht zuhören.
»Tu es nicht, meine Tochter. Bitte, tu es nicht!«
»Ich werd es mir überlegen«, antwortete sie kalt.
»Als ich ein Junge war, hatte ich eine Katze«, murmelte der Abt langsam. »Einen großen grauen Kater mit Schultern wie eine kleine Bulldogge und dem entsprechenden Kopf. Er besaß die nachlässige Eleganz und Frechheit, die einen glauben lassen, daß diese Tiere des Teufels sind. Hundertprozentig Katze. Kennen Sie Katzen? Verstehen Sie was davon?«
»Ein bißchen.«
»Katzenliebhaber verstehen Katzen nicht. Man kann einfach nicht alle Katzen lieben, wenn man die Katzen kennt. Und die Katzen, die man lieben kann, wenn man sie kennt, sind eben gerade jene Katzen, die
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