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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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so war. Stattdessen wurde er rasch wach und machte sich sofort an die Arbeit, seine momentane Lage abzuschätzen.
    Die junge Frau brachte ihm mit einer gewissen Regelmäßigkeit etwas zu essen – für gewöhnlich einen scharf riechenden Mehlbrei, der ein wenig nach Fisch und Mais schmeckte –, aber Vlad hatte keine Ahnung, wie oft sie kam. Und jedes Mal half sie ihm dabei, sich aufzusetzen, und fütterte ihn geduldig, als wäre er ein Kind. Manchmal ließ sie die Schale da, wenn er nicht aufgegessen hatte. Aber er hatte noch nie direkt aus der Schale gegessen. Es war schlimm genug, dass er sein Wasser auf diese Weise zu sich nehmen musste, wenn es ausnahmsweise nicht durch das Schaukeln des Schiffes vergossen worden war.
    Vlad Li Tam rollte sich zur Innenseite des Rumpfs und legte sein Ohr daran. Er hörte ferne Stimmen und spürte die Erschütterungen in seinem Schädel, als wiederum Holzteile aneinanderschabten.

    Sie bewegten sich nicht mehr vorwärts, erkannte er, und das drastisch verringerte Vor- und Zurückschaukeln des Schiffes verriet ihm, dass sie entweder in unnatürlich ruhigen Gewässern waren oder sicher im Hafen lagen. Letzteres schien am wahrscheinlichsten.
    Er hörte Schritte hinter seiner Tür und benutzte die Wand, um sich aufzurichten. Seine Muskeln sträubten sich, Krämpfe und Zuckungen überfielen ihn, und als sich die Tür öffnete, hörte er sich stöhnen.
    »Nur ein kurzer Spaziergang«, erklärte die junge Frau. »Wir hätten dich auch tragen lassen können, aber ich dachte, dass du es vielleicht zu schätzen weißt, wenn ein Teil deiner Würde wiederhergestellt wird.« In ihrer Stimme lag Belustigung.
    »Wo sind wir?«, fragte er.
    Sie antwortete nicht. Stattdessen griff sie mit starken Händen herab, um sich an den Seilen zu schaffen zu machen, die seine Fußgelenke fesselten, und einen winzigen Augenblick lang spannte er die Muskeln in den Beinen an, um nach ihr zu treten, besann sich aber eines Besseren. Sie kicherte. »Du würdest nicht weit kommen, alter Mann. Es ist besser, wenn du es gar nicht erst versuchst.«
    »Wenn Ihr mich töten wolltet«, sagte er, »hättet Ihr es längst getan.«
    Sie lachte wieder. »Das ist überhaupt nicht wahr, Vlad. Ehe dieser Tag kommt, sind noch andere Dinge zu erledigen, aber zweifle keinen Augenblick daran, dass er kommen wird.« Sie zerrte an ihm, und ihre Körperkraft war überraschend. »Jetzt steh auf.«
    Vlad gehorchte und schwankte unsicher, bis er gegen den Rumpf prallte.
    Sie zog ihn wieder hoch und hielt ihn mit ihrem starken Griff fest. Dann führte sie ihn vor sich her, eine Hand auf seiner Schulter. Verglichen mit dem stinkenden Verschlag, den er gerade verlassen
hatte, fühlte sich die schale Luft im Frachtraum wie ein kühler Herbsttag an. Sie kamen in einen Gang.
    »Jetzt nach rechts«, sagte sie. »Zehn Schritte bis zur Treppe.«
    Vlads Beine brannten vor Anstrengung, und er stolperte.
    Die Frau beugte sich von hinten dicht heran, und er spürte, wie ihn ihr Atem an der Hinterseite seines Ohrs kitzelte. »Ich könnte dich tragen lassen. Wäre dir das lieber? Willst du, dass deine Kinder dich so sehen?«
    Meine Kinder. Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg, ihn mit Angst und Wut überflutete, von der er Kopfschmerzen bekam. Er ballte die Fäuste und spürte, wie er die Kiefermuskeln anspannte. »Meine Kinder?«
    Sie antwortete nicht. Sanft schob die junge Frau ihn weiter. »Du kannst das durchstehen, Vlad«, sagte sie zu ihm. »Auf eigenen Beinen.«
    Vlad Li Tam quälte sich weiter, zählte die Schritte und fand mit einem tastenden Fuß die erste Stufe. Als er nach oben kletterte, kroch an den Rändern seiner Augenbinde Licht herein, und er roch plötzlich Mangobäume und salzige Luft und heißen Sand. Er öffnete den Mund und sog die Gerüche ein. Dann wurde er nach links gedreht, und starke Hände hoben ihn auf den Anlegesteg.
    Sobald er auf dem Pier stand, spürte er Hände am Hinterkopf, und plötzlich wurde er von berstendem Weiß geblendet. Vlad schloss sofort die Augen, doch das Licht drang sogar durch seine Lider. Er stöhnte. Als er die Augen wieder öffnete, war das Erste, was er sah, die junge Frau. Sie war jung – zwanzig vielleicht –, und ihr Gesicht war mit grauen, schwarzen und weißen Zeichen bemalt, zwischen denen ihre grünen Augen hervorstachen. Muschel- und Korallenstücke waren in ihr Haar geflochten, und sie lächelte ihn an.
    Sie war schön und gefährlich.
    Sie trug die Kleider eines Fischermädchens,

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