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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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aber er konnte sehen,
dass dies nicht ihren Gepflogenheiten entsprach. Sie war für Rüstungen geschaffen, vielleicht auch für elegante Kleider, aber für nichts zwischen diesen Extremen. Dennoch hielt ihr ein Mann auf dem Anleger eine dunkle Kutte hin, und sie ließ die Arme hineingleiten.
    »Wo bin ich?«, fragte Vlad noch einmal.
    Ihr Lächeln wurde breiter. »Zu Hause, Vlad.«
    Als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, nahm er seine übrige Umgebung wahr. Der Schoner am Pier war aus einem dunklen, unbekannten Holz gefertigt. Ein Schiff wie dieses hatte er noch nie in den Benannten Landen gesehen. Der Schiffsbauer in ihm nahm Maß und schätzte die Verdrängung des Rumpfes ab, errechnete seine Geschwindigkeit auf der Basis seiner Masten und Segel und nahm von der buntgemischten Mannschaft Notiz, die sich auf Deck bewegte.
    Der Pier war hoch und blickte über ein Meer hinaus, so grün und klar, dass es ihm in den Augen wehtat, und als Vlad ins Landesinnere schaute, sah er Dschungel und Sand. Im Dschungel sangen Vögel, Affen schnatterten, und darüber erhob sich ein Gebäude aus weißem Stein in einen wolkenlosen, blauen Himmel.
    Vlad Li Tam blinzelte und taumelte, aber diesmal hielt die Frau ihn nicht fest. Er sah sie an und konnte sie endlich einordnen, aber es ergab keinen Sinn für ihn. Die Farbe hatte sie verraten, die in sorgfältigen Symbolen auf ihre Haut aufgetragen war, und ihr mit Erdstücken verziertes Haar, allerdings kunstvoller gestaltet, als er es je zuvor gesehen hatte. »Ihr seid eine Sümpflerin«, sagte er.
    »Nein«, antwortete sie. »Das ist der verkümmerte Name aus der Zeit unseres Kummers. Aber die Tränen meines Volkes gehören nun der Vergangenheit an. Ich bin vom Machtvolk.«
    Machtvolk. Er ließ das Wort in sein Gedächtnis fallen und stellte fest, dass es dort nicht den kleinsten Widerhall verursachte.

    »Ah«, sagte sie und wandte sich ab. »Sie sind inzwischen eingetroffen. «
    Vlad Li Tam hörte ein vertrautes Geräusch. Er folgte ihrem Blick, und sein Atem stockte. Ein Eisenschiff bog um die Spitze des Hafeneingangs und dampfte langsam herein.
    Meine Kinder.
    Ein weiteres folgte dicht darauf und danach noch eines. Die Flaggen des Hauses Li Tam waren abgenommen, und an ihrer Stelle wehten keine anderen Banner. Vlads Beine drohten nachzugeben, als die ganze Last dieses Anblicks auf ihn herabsank. Fünf seiner Schiffe näherten sich, und auf ihren Decks sah er seine Familie aufgereiht – Männer, Frauen und Kinder –, während dunkel gekleidete Soldaten zwischen ihnen umhergingen und Befehle brüllten. Er sah noch einmal hin und bemerkte, dass sein Flaggschiff nicht bei der kleinen Flotte war.
    Schließlich knickten seine Beine ein, und er ließ sich auf den Pier sacken. Als er wieder sprechen konnte, war seine Stimme leise, und sein Mund schmeckte nach Sand. »Worum geht es hier überhaupt?«
    Er erkannte Liebe in ihren Augen, als sie wieder auf ihn herabblickte, und das entsetzte ihn. »Es geht um Erlösung, Vlad.«
    Er griff nach einer weiteren der tausend Fragen, die vor seinen Augen verschwammen. »Wer seid Ihr?«
    »Ich habe es dir gesagt«, antwortete sie. »Ich bin deine Blutlöserin und deine Bundheilerin.«
    Die Schiffe wurden langsamer, und er hörte die Maschinen aufheulen, als sie gedrosselt wurden, und das Klirren der Ankerketten. Zwei Männer zogen ihn auf die Beine, und er sah zu, wie die ersten Langboote begannen, seine Familie an Land zu bringen.
    Ihre Worte hallten durch seine Gedanken. Blutlöserin. Bundheilerin. Als die ersten Boote die niedrigeren Stege unter ihnen erreichten, sah er Angst auf den Gesichtern seiner Enkel.

    In diesem Augenblick lernte Vlad Li Tam zum ersten Mal in seinem Leben die Ohnmacht der Verzweiflung kennen.
    Jin Li Tam
    Von ihren Träumen erschreckt wachte Jin Li Tam auf, und die knochenübersäte Ebene von Windwir verschwand, während die Worte des Bundraben noch in ihren Ohren nachklangen. Bald werde ich mich an den Augen deines Vaters gütlich tun.
    Hätten die Alpträume nicht während ihrer Wehen begonnen, hätte sie sie für seltsame Nebenwirkungen der Pulver gehalten, die sie zu sich nahm. Aber sie wusste es besser.
    Sie setzte sich hin und rieb sich die Tränen und den Schlaf aus dem Gesicht. Neben ihr regte sich Jakob, und sie sah ihn an. Sein winziges Gesicht war grau und weich, er schlief, und sein Atem ging in flachen, japsenden Zügen. Sie zog ein Kleid an und tappte als Erstes zu den Glastüren, die auf

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