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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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nach ihrem Geburtstag. Und in jenen mädchenhaften Tagträumen war Hanric mit ihr gegangen. Er hatte gleich hinter ihr Schritt gehalten und hier und da ein freundliches oder ermutigendes Wort für sie gehabt. Und ihr Volk hatte den Weg mit Blumen gesäumt, obwohl sie ob dieser öffentlichen Verehrung rot geworden war.
    Nachdem sie Neb getroffen hatte, war ein neues Element zu ihren Tagträumen hinzugekommen: Er begleitete sie, und sie war die Braut des Heimatsuchers, die ihren Platz auf dem Thron einnahm und sich zur Königin ihres Volkes erklärte.
    Doch in der Wirklichkeit war es ein schmerzhaft kalter Aufstieg, vollkommen allein. Sie ging hinauf, weil sie musste, und als sie am Gipfel anlangte, schnallte sie sich das Geschirr vom Rücken und drehte den Weidenthron in den Wind. Sie entkorkte das Fläschchen und kippte sich die widerlichen Blutmagifizienten in den Mund. Sie waren sauer und salzig auf der Zunge, und sie musste die ekelhafte Flüssigkeit regelrecht hinunterwürgen.
    Winters wartete und zählte im Stillen.
    Als sie den Mund öffnete, hörte sie eine Stimme wie das Rauschen vieler Wasser, die über den Himmel donnerten und sich auf ihr Volk ergossen. Die Stimme strömte über die Lande, als Flüstern
erreichten ihre Worte selbst ferne Städte und Gehöfte, nachdem sie viele hundert Meilen weit dahingerollt waren.
    »Ich bin Winteria bat Mardic!«, rief sie. »Ich bin die wahre Erbin des Weidenthrons und die Träumende Königin meines Volkes.«
    Sie sagte es noch zweimal und setzte sich dann auf ihren Thron.
    Dort saß sie, blickte mit stillem Herzen über ihre Lande hinaus, bis die Sonne weit im Westen zu versinken begann.
    Und während die Sonne unterging, blickte sie nach Osten und ließ ihren Blick dort verharren, bis alles Licht verschwunden war.
    Dann erhob sie sich und legte ihr Geschirr an.
    Mit einem Seufzen hob Winters noch einmal ihre Bürde auf und stieg hinab, hinein in den Anbruch einer weiteren kalten Nacht.
    Neb
    Neb erschrak, als ihn starke Hände wachrüttelten und die kalte Hochgebirgsnacht und die Wärme der Frau aus seinen Träumen plötzlich verschwanden. Im schwachen Lampenlicht, das über die Wände des Schuppens flackerte, in dem sie übernachteten, starrte Aedric mit hartem Blick auf ihn herab.
    Mit einem Nicken zeigte Neb, dass er wach war, kroch aus seiner Decke und zog seine weichen Lederstiefel an. Er fragte sich, ob ihr Führer wohl schon zurückgekehrt war.
    Getreu seinem Wort hatte Renard sie beim letzten Sonnenstrahl, als sich gerade die ersten Sterne funkelnd am Firmament erhoben, zur Weitschreiterstadt gebracht. Er hatte ihnen geholfen, die Unterbringung in einem Schuppen gleich vor den Mauern der Stadt auszuhandeln, in dem es nach Schweinen und Ziegen
stank, und sie anschließend dort zurückgelassen, um alle Neuigkeiten zu sammeln, die ihnen von Nutzen sein könnten.
    Die kleine Siedlung lag weiter draußen in den Ödlanden, als Neb gedacht hatte, sogar noch weiter, als das Auge von der Höhe des Hüterwalls aus blicken konnte. Er hatte Geschichten über die Weitschreiterstadt gehört, aber die Einzelheiten waren stets knapp ausgefallen, und die Lücken hatte er mit romantischen archäologischen Träumereien ausgefüllt. Die Realität erwies sich als enttäuschend. Neb drehte die Lampe herunter, schloss die Tür des Schuppens hinter sich und blickte hinaus in die von den Sternen erhellte Landschaft. In den noch dunklen Schatten an der Ecke des Schuppens wartete Aedric auf ihn. Neben ihm stand Isaak. Die Augen des Metallmanns waren geschlossen, aber hinter den Schließen flackerte und funkelte Licht, während die Getriebe surrten und tief unter seiner Metallhaut heißer Dampf wisperte.
    »Er rechnet«, sagte Aedric mit leiser Stimme. »Renard hat ihm eine Karte gezeigt, bevor er gegangen ist. Er sucht nach möglichen Wegen, die unser anderer Freund eingeschlagen haben könnte.«
    Einen Augenblick lang beobachtete Neb den Metallmann, dann sprach er das aus, was auch Aedric denken musste. »Ich habe keine Ahnung, wie wir ihn finden sollen.«
    Aedric nickte. »Ich auch nicht. Und um offen zu sein, ich bin mir auch nicht sicher, ob wir das zu diesem Zeitpunkt überhaupt versuchen sollten.« Er hielt inne, und Neb wartete darauf, dass er fortfuhr. Als der junge Erste Hauptmann weitersprach, lag ein seltsamer Ton in seiner Stimme, wie ihn Neb noch nie bei einem von Rudolfos Zigeunerspähern gehört hatte – ein Anklang von Zweifel, der beinahe an Angst grenzte. »Ich habe

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