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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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ihren schneebedeckten Balkon hinausführten. Es war eine klare Nacht, und die Sterne schienen auf die schlafende Waldstadt hinab. Der Vollmond warf sein wässriges Licht auf den Bibliothekshügel und überzog die riesigen Grundsteine des Baus mit einem blaugrünen Glühen. Es würde noch einige Stunden dauern, bis die Sonne aufging und die Neun Wälder langsam erwachten.
    Jin ging zur Tür und öffnete sie, dann pfiff sie nach einem Diener. Ein Mädchen mit frisch geschrubbtem Gesicht und noch feuchten Haaren kam herbeigeeilt.
    Sie verabscheute es nach wie vor, ihm von der Seite zu weichen, aber sie brachte es nicht über sich zu riskieren, dass ihr Kind aufwachte. Sein Schlaf war ohnehin unruhig. »Setz dich zu Jakob«, trug sie dem Mädchen auf, »und bring ihn zu mir, wenn er aufwacht. Ich bin im Arbeitszimmer.«

    Das Mädchen machte einen Knicks. »Ja, edle Dame Tam.«
    Sie wartete, bis die Dienerin das Zimmer betreten hatte, um ihren Platz im Schaukelstuhl neben dem Bett einzunehmen. Zufrieden schlüpfte Jin in den Gang hinaus und tappte leise die mit dicken Teppichen belegten Böden entlang.
    Rudolfos Arbeitszimmer lag hinter verzierten Doppeltüren, die aus einem dunklen, polierten Holz gefertigt waren. Sie ließ den eisernen Schlüssel ins Schloss gleiten und drehte ihn mühelos herum, dann stieß sie die gut geölte Tür gerade weit genug auf, um hineinzuschlüpfen.
    Nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, ging Jin zum Schreibtisch und zündete die Lampe darauf an. Schon warteten neue Nachrichten in dem schlichten Korb auf sie, den Rudolfo für eingehende Arbeit bereithielt, und sie seufzte. Jin wusste nicht genau, wie er mit alledem fertigwurde, aber sie wusste, dass er an den meisten Tagen bekanntermaßen früh aufstand. Am Tag zuvor war sie schon vor der Morgendämmerung am Schreibtisch gesessen und bis nach der Abenddämmerung geblieben, um sich schließlich bis zum Boden des Korbes durchzuarbeiten. Inzwischen war er zu einem Drittel gefüllt, und mit der Dämmerung würde noch mehr kommen.
    Das ist das Leben einer Königin , dachte sie. Sie griff nach der obersten Nachricht, dann zwang sie sich dazu, davon abzulassen. Stattdessen zog sie die Schublade des Schreibtischs auf und holte den Messergürtel hervor. Mit einem raschen Blick zur Tür schlüpfte sie aus ihrem Kleid und ließ es zu Boden fallen. Dann schnallte sie den Gürtel über ihr kurzes Untergewand aus Baumwolle und ging in die Mitte des Zimmers. Sie grub die Zehen in den Teppich und nahm die Grundhaltung ein, schloss die Finger um die Knochengriffe der Klingen an ihren Hüften. Dann zog sie die Messer und begann ihren morgendlichen Tanz.
    Die Zeit, die sie im Bett verbracht hatte, hatte einst stramme Muskeln schlaff werden lassen, und obwohl sie während der
Schwangerschaft nicht sehr stark zugenommen hatte, war es genug, dass Jin sich unbehaglich fühlte. Aber durch die Messer und die nachmittäglichen Läufe, mit denen sie vor drei Tagen angefangen hatte, befreite sie ihren Körper wieder aus seiner langen Gefangenschaft.
    Ihre Füße bewegten sich zu einem unhörbaren Rhythmus, immer wieder verlagerte sie ihr Gewicht, duckte sich und sprang. Die Messer blitzten im trüben Licht, während Jin sie um sich herum und über sich hinwegsausen ließ, jeden Hieb in eine andere Richtung führte, aufwärts, abwärts, zur Seite. Während sie tanzte, wurden ihre Gedanken unweigerlich zu dem Moment gezogen, als sie das letzte Mal jemanden verwundet hatte. War es bei ihrer Flucht aus Sethberts Lager mit Neb gewesen? Nein, erinnerte sie sich, es war in der Nacht geschehen, als sie und die Zigeunerspäher sich magifiziert hatten, um Rudolfo aus dem Sommerpalast des sogenannten Papstes Resolut zu retten.
    Es scheint inzwischen so lange her. Und das traf in vielerlei Hinsicht zu, wie sie erkannte. Sie und Rudolfo hatten die strategische Heirat vollzogen, die ihr Vater in die Wege geleitet hatte, aber sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie sehr sie den Zigeunerkönig tatsächlich lieben und respektieren würde. Genauso wenig verstand sie, wie ein so winziges Leben jemanden so tiefgreifend verändern konnte.
    Sie tanzte selbstvergessen, erinnerte sich daran, wie das Handgelenk erschüttert wurde, wenn die Klinge auf Knochen traf, an den sanften Widerstand, den Stoff und Haut leisteten, und an die schlüpfrige Wärme des Blutes, das daraufhin die Finger benetzte. Sie bewegte sich über den Boden und wurde immer schneller, während sich

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