Lobgesang
trocken. »Unser Werk?«
»Jawohl«, sagte Renard. »Ein Werk, das mir dein Vater aufgebürdet hat, als du geboren wurdest.« Er blickte Neb mit seinen durchdringenden blauen Augen an. »Ein Werk, von dem er und deine Mutter wussten, dass es dir bestimmt sein würde, schon Jahre bevor du überhaupt gezeugt warst.«
Er und deine Mutter. Bruder Hebda hatte Nebs Mutter nie erwähnt, und Neb war zu höflich gewesen, um nach ihr zu fragen. Nein , erkannte er, nicht höflich, sondern vorsichtig . Er hatte einfach zu viel Angst gehabt, dass sein Vater ihn nicht mehr besuchen kommen würde, wenn er sich nach ihr erkundigte. Es war sehr selten, dass jemand aus dem Orden die Kinder anerkannte, die trotz des Keuschheitsgelübdes geboren wurden. Noch seltener war es, dass sich einer dieser Männer die Zeit nahm, seinen Sohn im Franzi-Waisenhaus zu besuchen. Neb musste schlucken, und er räusperte sich. Zwei Fragen nagten an ihm und rangen um
seine Aufmerksamkeit, und er ergab sich derjenigen, die ihn am wenigsten erschreckte. »Was für ein Werk ist das?«, fragte er.
»Das Werk der Heimatsuche«, erwiderte Renard.
Woher weiß er davon? Neb blinzelte. Und wie haben meine Eltern davon wissen können? Plötzlich schwamm ihm der Kopf, und die zweite Frage bahnte sich ihren Weg über seine Zunge, obwohl sie eher wie eine Aussage klang, als sie aus seinem Mund platzte: »Du hast meine Mutter gekannt.«
Eine Wolke zog über Renards Gesicht, und er schloss seine Augen ein wenig länger, als er es hätte tun sollen. Als er sie öffnete, war ihr Ausdruck wieder ungetrübt. »Ja, Junge. Ich habe sie gekannt.«
Weitere Fragen brachen über Neb herein, aber es waren zu viele, um sie zu stellen. Schweigend saß er da, überwältigt von den Ausmaßen seiner angeblichen Bestimmung. Sicher, dadurch, dass er mit Winters Träume teilte, stand er mitten im Zentrum des Mystizismus und der Prophezeiungen der Sümpfler. Er wusste, dass Winters ihn für den Heimatsucher hielt. Aber bis auf seine eigenen Träume und den Glauben des Mädchens, das er liebte, hatte er keine weiteren Belege dafür gefunden. Doch jetzt sagte ihm ein Mann, den er kaum kannte und dem er nicht unbedingt vertraute, dass sowohl sein Vater als auch seine Mutter von dieser Aufgabe gewusst hatten, noch bevor Neb geboren worden war.
Das erschütterte ihn.
Nach einer Weile nahm Renard sein Messer, um ihr Abendessen aus dem Feuer zu holen, damit es abkühlen konnte. Er blickte zu Neb hinüber. »Sie war schön und klug«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang belegt bei diesen Erinnerungen.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Neb, obwohl er sich nicht sicher war, ob er es wissen wollte.
Doch Renard schwieg. Nachdem das Fleisch abgekühlt war, riss er die Ödlandratte entzwei, und sie verzehrten sie rasch und schweigend.
Das Fleisch war fettig und hatte einen starken, säuerlichen Geschmack, aber Neb stürzte sich darauf, als wäre es ein Hasenbraten aus den Neun Wäldern. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal besser gespeist zu haben, und das trotz der bedrückenden Stille.
Als er fertig war, kroch Neb unter seine Decke und zählte Sterne, bis ihn die Gedanken an Winters forttrugen. Er fragte sich, was sie gerade tat und wie es ihr ging. Je tiefer sie in die Ödlande vordrangen, desto weniger Träume blieben ihm in Erinnerung. Er wünschte sich, in dieser Nacht von ihr zu träumen, sie an irgendeinem der Orte in der Mitte zwischen ihren Träumen aufzuspüren oder sogar einen Traum mit ihr zu teilen, damit er ihr sagen konnte, wie sehr er sich plötzlich fürchtete. Bis jetzt hatte er geglaubt, der Zufall hätte ihn hierhergeführt – die Verfolgung der beiden Metallmänner mit diesem Renard, der nicht Fisch und nicht Fleisch war –, aber nun ahnte er ein Schicksal dahinter, das weit über ihn und seine Sumpfkönigin hinausging.
Und er kannte meine Eltern. Neb vertraute dem Ödland-Führer nicht, aber er glaubte ihm.
Er lag noch lange wach, nachdem Renards Atem langsam und gleichmäßig geworden war und lange nachdem der Mond seinen Zenit am Nachthimmel erreicht hatte. Er dachte über alles nach und wünschte sich, er könnte schlafen und träumen.
Aber als der Schlaf Neb endlich holte, brachte er keine Träume, und er wachte immer wieder auf, weil das so seltsam war.
Kapitel 14
Lysias
Ohne seine Uniform fühlte Lysias sich fehl am Platz, und er hoffte, dass man ihm das nicht ansah. In der Schenke herrschte eine selbstverständliche Geschäftigkeit,
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